Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
sie den Teig für die Kruste mixte, sah sie ganz genauso aus. Wann immer Cerise diesen Gesichtsausdruck wahrnahm, katapultierte sie der Anblick in der Zeit zurück: Sie war dann wieder fünfzehn, versteckte sich mit einem Stück ofenheißer Beerenpastete unter dem Tisch und versuchte nicht zu kichern, während Tante Pete eine große Schau abzog und vorgab, die Diebin zu suchen, und dabei gegen den Tisch bollerte, um dem Ganzen mehr Dramatik zu verleihen.
Doch leider arbeitete Tante Petunia heute nicht an einer Pastete. Aufgebrochen wie ein tranchierter Puter lag der Körper des Jägers auf dem Tisch. Die Organe waren sorgsam entfernt, gewogen und in Keramikschalen abgelegt worden. Auf deren Böden schwappte eine weiche rote Pampe, die dort nicht hingehörte.
»Ich mag dich, Kind. Du bringst so interessante Sachen mit nach Hause«, sagte die Tante durch eine Stoffmaske.
»Zieh deine Maske an«, dröhnte Mikita.
Cerise nahm ihm die Maske aus der Hand und zog sie über.
»Er verwest zu rasch«, erklärte Tante Petunia. »Schon in wenigen Stunden wird nichts mehr von ihm übrig sein. Schau.« Sie deutete nickend auf das Mikroskop neben dem Tisch.
Cerise blickte durch das Okular. Um die vertrauten runden Blutzellen wuselten fahlblau schimmernde, lange verschlungene Streifen.
»Was ist das?«
»Würmer.«
»Das dachte ich mir.«
»Nicht so vorlaut, Fräulein. Ich habe keine Ahnung, was genau sie sind, aber sie müssen geschlüpft sein, als der Körper auszukühlen begann, und jetzt verzehren sie unseren Kadaver. Was du da siehst, ist anspruchsvollste Magie. Wer immer diese kleinen Ungeheuer erschaffen hat, war danach bestimmt ein gemachter Mann. Aber das ist noch nicht alles. Wirf mal einen Blick auf das hier.«
Sie packte die Oberlippe des Jägers mit einer Metallzange, stülpte sie um und legte die Fangzähne darunter frei. »Guck dir diese Hauer an. Und Giftdrüsen haben diese zwei da auch noch.«
Tante Petunia wandte sich nun dem Arm zu. »Und hier haben wir Krallen zwischen den Knöcheln. Die Krallen ziehen sich zurück, so, dann zieht sich der kleine Beutel dahinter zusammen, und schon spritzt ein schönes, klebriges Zeugs da raus.«
Die kleine, schwarze Kralle fuhr unter dem Druck der Zange zurück, sofort trat ringsum ein Tropfen opaker Schleim aus.
»Da spritzt jetzt nichts mehr, weil unser Knabe hier tot und der Schleimbeutel leer ist, sonst schießt der Strahl, würde ich sagen, gut ein, zwei Meter weit.«
»Eher drei«, widersprach Cerise.
Tante Petunias Augenbrauen hoben sich. »Drei Meter. Echt?«
Cerise nickte.
»Das ist schon ein krankes Bürschchen.« Tante Petunia lehnte sich zurück. »Deinem Großvater hätte das gefallen. Er wäre natürlich entsetzt gewesen, trotzdem hätte er die Handwerkskunst zu schätzen gewusst. Wenn man jemanden mit Magie so sehr verändert, tja, dann ist er am Ende nicht mehr menschlich.«
Nein, hier gab es nichts Menschliches mehr. Cerise schlang die Arme um ihren Leib. Dieses Ding … war etwas Monströses, Unbeherrschbares. Mit Menschen konnte sie umgehen. Menschen hatten Schwächen – sie mochten es nicht, wenn sie verletzt wurden, sie sorgten sich um ihre Familien. Menschen konnte man einschüchtern, überlisten, bestechen … Aber die Art, wie der Jäger sie angesehen hatte, ließ ihr die Haare zu Berge stehen. Als wäre sie ein Gegenstand, ein Ding, etwas, das man zerbrechen oder essen konnte, aber bestimmt keine Person. Wie sollte man so etwas bekämpfen? Sie hatte keine Ahnung, wie sie es aufhalten sollte, es sei denn durch totale Vernichtung.
Sie würden ihren Blitz oder schweres Geschütz benötigen. Oder William. William schien genau der Richtige zu sein.
»Also, wann kann ich den anderen untersuchen?« Tante Petunia betrachtete sie über den Rand ihrer Brille.
»Welchen anderen?«
»Das Prachtexemplar, das du angeblich im Sumpf gefunden hast.«
Cerise warf die Arme in die Luft. »Bleibt in diesem Haus denn gar nichts verborgen?«
»Natürlich nicht.« Tante Petunia schnaubte. »Ich habe gehört, er sieht so gut aus, dass sogar Murid mit ihm geredet hat.«
»So gut sieht er gar nicht aus.« Cerise hielt inne. »Das heißt, okay, er sieht schon sehr gut aus.«
»Hmpf«, machte Mikita.
»Du magst ihn!« Die ältere Frau grinste.
»Vielleicht ein bisschen.« Die Untertreibung des Jahres. »Er ist ein Arsch.«
»Hmpf«, machte Mikita.
»Ich glaube, mein Sohn will uns mitteilen, dass wir mit unserem Mädchentratsch sein Feingefühl
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