Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
meine Tante und mein Onkel, nahmen mich zu sich. Das mussten sie nicht, aber sie taten es trotzdem. Cerise ist wie eine Schwester für mich. Wenn Sie ihr oder einem von uns wehtun, bringe ich Sie um.«
William biss in seine Piroge und maß die Entfernung bis zur Tür. Hm, etwa fünf, sechs Meter. Mehr oder weniger. Das schaffte er mit einem Satz. Springen, Erian einen Hieb in die Magengrube verpassen, seinen Schädel gegen die Tür rammen, und, zack, schon hätte er fürs Erste seine Ruhe. Er nickte dem blonden Mann zu. »Guter Vortrag.«
Erian gab das Nicken zurück. »Schön, dass er Ihnen gefallen hat.«
15
Ruh beugte sich vor und warf sein Netz aus. Spider sah zu, wie die karminroten Flimmerhärchen, die die Blutgefäße von Ruhs Netz einhüllten, im dunklen Wasser zitterten. Ein langer Augenblick verging, dann schloss sich das Netz, zog sich zusammen, wich zurück und verschwand in der Schulter des Fährtenlesers.
»Sie sind hier vorbeigekommen.« Ruhs knirschende, dennoch zischende Stimme erinnerte Spider an Schotter, der über Stein schrammte. »Laverns Blut ist im Wasser. Jetzt sind sie weg. Ich kann zwei Spuren von Körperflüssigkeiten des Jägers schmecken, eine schon weiter zersetzt als die andere. Also sind sie hier gewesen und wieder verschwunden.«
Spider hob den Blick zu einem kleinen, auf Stelzen thronenden Haus, vor dem ein verwitterter Bootssteg in einen von Zypressen gesäumten Teich hineinragte. »Sie waren hier, haben aus irgendeinem Grund Halt gemacht und sind dann mit Laverns Leiche weitergezogen.«
»Ich habe auch wieder die seltsame Spur aus dem Fluss gefunden: Blut, das irgendwie nicht menschlich schmeckt.«
Spider stemmte den Ellbogen aufs Knie, beugte sich vor und stützte das Kinn mit den Fingern. Das mit dem Blut war interessant. »Ein Verwundeter. Sie hatten einen Verwundeten dabei, den sie hier abgesetzt haben.«
»Ja, Mylord.«
»Warum hier? Warum haben sie ihn nicht bis zum Mar-Haus mitgenommen, hinter die Wehre?« Spider klopfte mit den Fingern gegen seine Wange. »Wie viel Zeit bleibt Laverns Leiche jetzt noch?«
»Zweiundzwanzig Minuten. Ich könnt mich aber auch irren, und es sind noch dreiundzwanzig.«
Spider lächelte. »Du irrst dich nie, Ruh. Warten wir’s also ab und sehen, ob wir recht haben.«
Er nahm die Zügel, und die Rolpies zogen das kleine Boot folgsam unter den Schutz eines knorrigen, tief über den Fluss geneigten Baumes.
Cerise stieg die schmale, im Hintergrund der Küche verborgene Treppe hinab. Die von vier Generationen ausgetretenen Holzstufen knarrten und bogen sich unter ihrem Gewicht. Sie würden über kurz oder lang ausgebessert werden müssen. Aber dann würde Tante Petunia natürlich nicht im Labor arbeiten können, und so selbstmörderisch veranlagt, sich den Zorn ihrer Tante zuzuziehen, war Cerise nun auch wieder nicht. Kein Zweifel – Tante Pete machte keine halben Sachen.
Erschöpfung ergriff Cerise, ihre Beine wurden furchtbar schwer. Sie musste das jetzt tun, erst dann konnte sie nach oben gehen, duschen und für ein paar Stunden über ihrem Bett zusammenbrechen. Wann sie das letzte Mal gegessen hatte, wusste sie nicht mehr.
Die Treppe endete vor einer massiven Tür, die so angegossen im Rahmen saß, dass an den Rändern keinerlei Licht durchschimmerte. Cerise klopfte mit den Knöcheln an das Metall.
Die Tür ging auf und offenbarte die Unterkunft, die Onkel Jean nach den Plänen für einen Atombunker für Tante Pete gebaut hatte. Und genauso sah der Raum auch aus – Betonwände und grelles Licht aus kegelförmigen Deckenlampen. Sie war nie dahintergekommen, wie er es geschafft hatte, das Wasser fernzuhalten, jedenfalls war der Bunker niemals undicht. Falls irgendetwas den Schutzraum kontaminierte, musste man nur die an der gegenüberliegenden Wand hängende Kette ziehen, und schon entleerte sich der Wasserturm darüber in den Bunker, flutete ihn mit magischem Wasser und neutralisierte das Problem. Anschließend versickerte die neutralisierende Lösung in einer Zisterne vor dem Haus.
Mikita schloss die Tür hinter ihr. Sie schritt über die an die Wände grenzende hölzerne Plattform, sprang auf den Grund und lief an den Dekontaminierungsduschen vorbei zu dem Untersuchungstisch, über den sich ihre Tante Pete mit einem Skalpell in der Hand beugte.
Klein und plump, sah die Tante sie mit einem Ausdruck äußerster Konzentration stirnrunzelnd an. Dieser Blick war der Wahnsinn. Tante Pete machte die besten Pasteten, und wenn
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