Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
Vergangenheit an. Wie Seile unter der Haut wölbte sich an den Schläfen ein Netzwerk aus Adern. Die immer noch goldblonden langen Haare waren dünn geworden und fielen ihm in einzelnen Büscheln von der Kopfhaut auf die Brust. Sein Gesicht war eingefallen und runzlig, und als er den Mund öffnete, um den Inhalt des Glases zu schlucken, erhaschte sie einen Blick auf sein Gebiss und erkannte darin blutige Fänge.
Casshorn leerte das Glas. So machte er es also: Er bezahlte seine Immunität gegen die Magie der Bluthunde mit seiner körperlichen und geistigen Unversehrtheit.
Declan drückte mit starken Fingern ihren Arm. Sie sah ihn an. Sein Blick war auf einen Punkt genau über Casshorn, auf der anderen Seite der Schlucht gerichtet. Sie schaute hin und riss sich zusammen, um nicht laut aufzustöhnen.
Dort lag ein Wolf im Gebüsch, massig, schwarz und riesig, wie ein Fleisch gewordener Albtraum. In ihrer Erinnerung war er gewaltig gewesen, doch sie hatte geglaubt, ihre Angst hätte ihr einen Streich gespielt und ihn größer erscheinen lassen, als er in Wahrheit war. Nun erkannte sie, dass er wirklich so riesenhaft war.
Declan formte mit den Lippen ein tonloses Wort: William .
Der Blick des Wolfes wanderte weiter und erfasste sie. Seine Augen funkelten bernsteinfarben. Die schwarzen Lippen teilten sich zu einem stummen Knurren, und William zeigte ihr seine Fangzähne. Rose erschauerte.
Irgendetwas stimmte hier nicht. Warum, um alles in der Welt, versteckte sich William im Gebüsch, wenn er doch mit Casshorn unter einer Decke steckte?
Etwas krachte, und sie blickten wieder nach unten. Casshorn hatte seinen Becher nach der Maschine geschleudert, von der er unbeschadet abgeprallt war. Casshorn lehnte sich zurück, fuhr sich mit den Krallenhänden durch die dünner werdende Mähne, die er nun mechanisch, wie wohl schon tausendmal früher, zu Strähnen zu flechten begann. Er hatte erst ein paar Zentimeter geflochten, als ihm der komplette Haarschopf vom Schädel glitt und ihn zum Glatzkopf machte. Casshorn glotzte die Haare in seiner Hand ungläubig an und warf sie achtlos weg. Die Strähnen verfingen sich in einem der Zahnräder und blieben dort hängen.
Eine bessere Gelegenheit hätten sie sich nicht wünschen können. Rose griff nach Declans Arm, bohrte ihre Finger hinein, bis er sie ansah, und flüsterte so leise, dass sie sich selbst kaum hörte: »Die Haare. Seine Haare.«
Casshorn sank nun in den Schmutz. Das Meer aus Bluthunden schloss sich um ihn. Er legte den Arm um eine der Bestien und schmiegte seine Wange in ihr blasses Fell. Das Biest rollte sich darauf auf die Seite, sodass Casshorn über ihm lag.
Declan nickte und griff nach dem Bündel neben ihm. Behutsam wickelten sie die Krähen aus, und Rose betete, dass George die Haare sehen würde. Sie hatte ihm eingebläut, wonach er Ausschau halten sollte: Kleidungsstücke, eine Haarbürste, persönliche Gegenstände, Silberzeug … aber Haare, so viele, gerade erst ausgefallene Haare, waren der Traum eines jeden Fluchwirkers. Nur Blut war noch besser, aber nur für kurze Zeit – da es viel zu schnell verdarb.
Während sie arbeiteten, fühlte sie den brennenden Blick des Wolfs. Die Schlucht erstreckte sich in beiden Richtungen fast zwei Meilen weit über raues, bewaldetes Gelände. Sie wusste, dass William nicht zu ihnen hinübergelangen konnte, aber so wie er sie anstarrte, hätte sie am liebsten laut geschrien.
Rose packte ihren Vogel. George spürte jetzt bestimmt schon, wie sie mit den Krähen hantierten, und passte deshalb ganz genau auf. Sie hielt den Vogel so, dass er die Haare direkt vor sich hatte, und wisperte immer wieder: »Haare, Haare, Haare, Haare, Haare …«
Declan ließ seinen Vogel los. Einen Augenblick später gab sie ihren ebenfalls frei. Die Krähen stürzten in die Schlucht wie schwarze Steine. Declans Vogel tauchte ab und kam wieder zum Vorschein, seine Krallen im Stoff von Casshorns Mantel vergraben. »Nein«, flüsterte sie. »Nein, nein, Georgie …«
Der Kopf eines Bluthunds ruckte hoch, dann noch einer. Ein dunkler Leib machte einen Satz, und die Krähe verschwand.
Der zweite Vogel beschrieb langsam einen Kreis über den Bluthunden, wendete, scherte nach links aus – und flatterte auf Casshorns Becher zu. Rose’ Herz raste, sie ballte die Hände zu Fäusten, wollte, dass der Vogel sich nach rechts wandte.
Im letzten Augenblick fiel der Vogel nach rechts und schnappte sich die Haare zwischen den Zahnrädern.
Da schlug
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