Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
Festgebunden an den Schaukelstuhl hockte sie da, und als Amy und ich sie rausholen wollten, hat sie Amy blutig gekratzt. Kenny Jo sollte kommen und die Knoten aufmachen, während wir sie festhielten. Er kam rein und fing sofort zu schreien an. Ich wollte ihn wieder rausschaffen, aber irgendetwas hat seine Sachen zerrissen, sein T-Shirt zerfetzt und ihm die Brust zerkratzt. Elsie meint, wir könnten es nicht sehen, weil es sich versteckt und unsere Zauberkräfte nicht ausreichen. Aber Kenny Jo sieht es.«
»Warum kommst du damit zu mir?«, fragte Rose.
»Weil er deinen Namen geschrien hat.« Leanne schluckte und fuhr mit heiserer Stimme fort: »Hör mal, ich weiß, dass ich dir in der Highschool das Leben zur Hölle gemacht habe, aber das da drin ist mein Kind. Hilf mir bitte, meinen Jungen zu retten!«
»Und du siehst sonst nichts in dem Zimmer?«
Leanne schüttelte den Kopf. »Ich habe was gespürt. Was Kaltes, Nasses …«
»Wie Schleim, der dir den Rücken runterläuft?« Rose fröstelte, als sie an die Bestie dachte, die Jack angegriffen hatte.
»Ja. So ähnlich.«
»Warte hier auf mich, ich brauche nur eine Minute.«
Rose lief ins Haus, ließ die Leiter zum Dachboden herunter, kletterte hinauf und knipste das Licht an. Der Dachboden diente seit Jahren als Rumpelkammer für allen möglichen Krimskrams, den ihr Vater während seiner Eskapaden gefunden hatte, und nun empfing sie stapelweise bizarres Zeugs wie alte Bücher, kaputte Waffen, seltsame Rätsel, die, sofern gelöst, Wege zu fabelhaften, nicht existierenden Schätzen wiesen, zusammengerollte Fantasiekarten, billige Antiquitäten …
»Jack!«, rief sie.
Er kam die Leiter rauf.
»Ich brauche die Sehlaterne. Schnell!«
Er atmete in der abgestandenen Luft auf dem Dachboden durch, stieg auf einen Stapel Kuriositäten und klaubte die Lampe von dem Gerümpelhaufen. Es handelte sich um eine alte, ramponierte Schiffslaterne; Verfärbungen vom jahrelangen Liegen im Salzwasser überzogen den schweren Metallfuß und die verzierte Haube. Rose hielt die Laterne an dem Ring auf ihrem Deckel und schüttelte sie behutsam, worauf hinter dem dicken, geriffelten Glas eine kleine, grüne Flamme erschien.
»Danke.«
Sie kletterte die Dachbodenleiter hinunter und sagte dabei ihre Anweisungen auf: »Bleibt im Haus. Lasst keinen rein oder raus. Ich bin bald wieder da. Wenn ich bis zum Mittagessen nicht zurück bin, nehmt ihr die Flinten und lauft zu Großmama.«
Die Jungen sahen sie an.
»Okay?«
»Okay.« Georgie nickte.
»Jack?«
»Okay.«
»Schön.« Sie ging zur Haustür. »Declan?«
Das Schlafzimmer ihres Vaters war verlassen, das Bett so ordentlich gemacht, dass sie fast noch einmal genauer hingesehen hätte. Stattdessen lief sie weiter und entdeckte Declan auf der Veranda, in voller Montur, mit Umhang und allem Drum und Dran. Leanne glotzte ihn sprachlos an.
»Ich begleite Sie«, verkündete er und unterstrich seine Worte mit dem frostigen Weiß, das seine grüne Iriden überzog.
»Wozu?« Rose flog die Verandastufen hinunter. Leanne brauchte einen Moment, bis sie aus ihrer durch Declan verursachten Trance erwachte, dann folgte sie ihr.
»Die Bestien sind gefährlich«, erklärte er. »Und Sie sind eine sehr starrsinnige Frau. Nur um mir eins auszuwischen, kommen Sie noch auf die Idee, sich umbringen zu lassen.«
Er ließ sich offenbar nicht davon abbringen, sie zu begleiten. »Wie Sie wollen.«
Auf dem Fußweg spürte sie ein vernunftwidriges Missbehagen, weil ein kleiner Teil von ihr begeistert war, einen großen, starken Mann mit einem meterlangen Schwert an seiner Seite zu haben.
»Wer ist das?«, flüsterte Leanne, als sie zu ihr aufschloss.
»Ein Mann, der bald erfolglos wieder abziehen wird«, antwortete sie.
Amys Haus war ein großes, altes Ding, an dessen Anfang ein schlichter Stützrahmen gestanden hatte. Vor langer Zeit musste es einmal eine klar umrissene Gestalt gehabt haben, aber die Haires waren dafür berühmt, sich für begabte Zimmerleute zu halten, sodass das Haus im Lauf der Jahre um mehrere Zimmer ergänzt worden war. Mittlerweile stand es wie ein wucherndes Allerlei mitten auf einer weitläufigen Wiese zwischen schmalen Blumenbeeten, Metallschrott und vier alten, verrosteten Autos, von denen sich keines in den letzten fünf, sechs Jahren von der Stelle bewegt hatte. Je mehr sie sich dem Haus näherten, desto schneller lief Leanne. Rose presste die Laterne an die Brust.
»Was wollen Sie mit der Laterne?«, fragte Declan.
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