Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition)
Jack.
»Kletterkrallen.«
Kaldar legte eine Hand auf die Fensterlaibung. Widerhaken schossen aus den Krallen und bohrten sich in die Mauer. Dann hängte er sich versuchsweise mit seinem ganzen Gewicht daran. Es hielt. Er zog die Hand zurück, worauf die Haken automatisch verschwanden.
»Achtet darauf, dass die Tür abgeschlossen bleibt«, zischte er.
Die Jungen nickten.
»Wenn jemand klopft, macht nicht auf. Sollen sie, wenn’s sein muss, die Tür aufbrechen. Wenn das passiert, schickst du einen Vogel zu William und Cerise, damit sie euch helfen. George, einen Vogel setzt du die ganze Zeit auf mich an. Wenn ich draufgehe, lauft ihr sofort zu William.«
»Alles klar«, nickte George.
Kaldar lehnte sich aus dem Fenster. Audrey befand sich in Cerises Zimmer, zwei Fenster weiter. Unter ihm gähnte der Abgrund. Wer wagt, gewinnt.
Er kletterte aufs Fensterbrett und legte die Kralle der rechten Hand an die Mauer. Die Klingen klickten. Dann drückte er das rechte Schienbein gegen den Stein. Die Krallen bohrten sich in die Wand. Klettern war noch nie sein Ding gewesen. Schwimmen war mehr sein Fall.
Kaldar atmete aus und trat vom Fensterbrett.
Die Krallen hielten.
Zuerst setzte er das linke Schienbein, dann die linke Kralle an und machte sich langsam, wie ein Insekt, an den Aufstieg. Sein Herz hämmerte. Er wusste, er durfte nicht nach unten schauen, aber das musste er auch gar nicht, in seiner Vorstellung versagten die Krallen. Er glitt an der Mauer abwärts, strampelte hoffnungslos, um Halt zu finden, und scheiterte. Dann endete die Mauer, er stürzte ab, drehte sich fallend in der Luft und klatschte schließlich auf die spitzen Felsen unter ihm.
Manchmal war eine lebhafte Fantasie ein Fluch.
Da kroch ein Schatten aus dem Fenster rechts von ihm und kam auf ihn zu. Audrey.
Kaldar blieb hängen, wo er war, und wartete auf sie.
Dann zog sie gleich, ihre Augen blickten erregt, sie flüsterte: »Das macht Spaß! Der Spiegel hat echt das beste Spielzeug.«
»Du hast Angst, mit einem Drachen zu fliegen, aber das macht dir Spaß?«
»Auf einem Drachen kann ich nichts tun. Ich kann nichts dran ändern, wenn ich abstürze. Das hier kann ich kontrollieren.« Sie kam näher. »Geht’s dir gut? Du bist so grün im Gesicht.«
»Setz irgendwas darauf, dass wir heil hier hochkommen.«
Sie löste ihre rechte Kralle und angelte eine Münze aus ihrer Tasche. »Ich setze diese Münze, dass wir es schaffen.«
»Du hast Geld zu einem Diebstahl mitgebracht.«
»Die ist klein und lässt sich leicht setzen, wenn wir in Schwierigkeiten geraten.«
Er liebte diese Frau wirklich. Er nahm die Münze und schob sie unter den Kragen seines Anzugs, wo sie Hautkontakt hatte. Eine vertraute Magiewoge durchfuhr ihn, ging auf Audrey über und kehrte zu ihm zurück. Kaldar begann zu klettern.
»Wie funktioniert das mit den Wetten eigentlich?«, wollte Audrey wissen, die sich neben ihm befand.
»Es muss etwas Machbares sein. Wenn es um einen Vorgang geht wie jetzt oder um den Marsch durch ein Minenfeld, ist es das Beste, wenn ich den Gegenstand, um den ich wette, in der Hand halten kann. Wenn es um eine Wette auf andere Menschen geht, klappt es nur in einem Drittel aller Fälle, und festhalten muss ich dann auch nichts.«
In ihre Augen trat ein listiges Funkeln. »Also hast du darauf gewettet, dass ich dich heiraten würde?«
»Nein.«
»Wieso nicht?«
Weil es dann nicht echt gewesen wäre . »Das musste ich nicht.«
»Du bist vielleicht ein arroganter Arsch.«
Er grinste. »Da stehst du doch drauf.«
Über ihnen ragte der riesige, dachlose Turm des Bergfrieds auf, den eine Brustwehr umlief – eine niedrige, von rechteckigen Schlitzen unterbrochene Steinmauer, durch die die Verteidiger die Angreifer mit Pfeilen eindecken konnten. Sobald sie die Brustwehr bewältigt hatten, standen sie für jeden auf dem Turm gut sichtbar auf dem Präsentierteller.
»Gibt es da oben Wachen?«, flüsterte Audrey.
»Ja.«
»Hast du einen Plan?«
»Ich habe immer einen Plan«, teilte er ihr mit.
»Würde es dir etwas ausmachen, mich einzuweihen?«
»Wir sorgen für Ablenkung, du machst alle Türen auf, wir tauschen die Kopien gegen die Originale aus, hauen unversehrt ab und haben scharfen Sex.«
»Guter Plan.«
Sie kamen zu der Brustwehr oben auf dem Turm. Unter ihnen fiel der Bergfried steil ab.
Georges Vogel landete auf Kaldars Schulter, klappte den Schnabel auf, schloss ihn, öffnete ihn abermals. Eins, zwei, drei, vier, fünf.
Kaldar
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