Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition)
miteinander: die Republik Texas, die Nördlichen Breiten, die Demokratie Kalifornien …
Kaldar war an den Rändern dieser Welt aufgewachsen, im Edge, einem schmalen Streifen Land zwischen der komplexen Magie des Weird und der technologischen Überlegenheit des Broken. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er im Moor zugebracht, einem riesigen Sumpfgebiet, das durch unpassierbares Gelände vom Rest des Edge abgeschnitten war. Das Herzogtum Louisiana ließ seine Verbannten dort versauern und brachte sie um, wenn sie ins Weird zurückzukehren versuchten. Er hatte daher nur durch das Broken entkommen können. Nun reiste er hin und her, schmuggelte, log, betrog, machte so viel Geld, wie es einem Menschen möglich war, und lieferte es bei seiner Familie ab.
Kaldar sah die Karte an. Jedes Land darauf hatte einen Feind. Jedes steckte bis zum Hals in irgendwelchen Konflikten. Doch der einzige Krieg, der ihn etwas anging, wurde mittendrin ausgetragen, nämlich zwischen dem Herzogtum Louisiana und Adrianglia. Ein sehr stiller, bösartiger Krieg, der unter der Hand von Spionen geführt wurde, ohne Regeln und ohne Gnade. Aufseiten Adrianglias lagen die Spionage und ihre Folgen in der Verantwortung des Spiegels. Kaldar nahm an, dass das Gegenstück des Spiegels im Broken die CIA oder das FBI oder womöglich beide waren. Aufseiten des Herzogtums Louisiana war die verdeckte Kriegsführung der Zuständigkeitsbereich des als die Hand bekannten Geheimdienstes. Er hatte den Zusammenprall beider Organisationen jahrelang von der Seitenlinie aus verfolgt, aber die Rolle des Zuschauers genügte ihm nicht mehr.
Zuerst weckte ihn der Spiegel um zehn vor fünf, und jetzt ließ man ihn schon eine Viertelstunde warten. Bedenklich.
Plötzlich flog die schwere Holztür lautlos auf, und eine Frau betrat den Raum. Sie war von kleiner Statur und in ein mit Silberfäden besticktes kostspieliges blaues Gewand gehüllt, ihr Körper wirkte dürftig. Gewohnheitsmäßig taxierte es Kaldar. Ungefähr fünf Golddublonen im Weird, vermutlich anderthalbtausend oder zweitausend Dollar im Broken. Teuer und offensichtlich maßgeschneidert. Der blaue Stoff passte perfekt zu ihrer Haut, die die Farbe von Haselnussschalen hatte. Das Kleid sollte ihre Macht und Autorität demonstrieren, gebraucht hätte sie das allerdings kaum. Sie bewegte sich, als gehöre ihr die Luft, die sie atmete.
Nancy Virai. Kopf des Spiegels. Sie waren einander nie begegnet – diese Ehre war ihm, arme Edge-Ratte, die er war, nie zuteilgeworden –, aber vorstellen musste sie sich ihm trotzdem nicht.
Er hatte die letzten beiden Jahre kleine Aufträge erledigt, Herausforderungen, ja, aber nichts Besonderes. Nichts, was die Aufmerksamkeit von Lady Virai gerechtfertigt hätte. Kaldar spürte einen Anflug von Vorfreude. Die bevorstehende Unterredung weckte große Erwartungen.
Lady Virai kam näher und blieb fast anderthalb Meter vor ihm an ihrem Schreibtisch stehen. Dunkle Augen in einem ernsten Gesicht musterten ihn. Ihre Iriden ähnelten schwarzem Eis. Wenn man zu lange hineinblickte, kam man vom Kurs ab und prallte mit Höchstgeschwindigkeit gegen die nächste Wand.
»Sie sind Kaldar Mar.«
»Ja, Mylady.«
»Wie lange arbeiten Sie jetzt schon für mich?«
Sie wusste ganz genau, seit wann er dabei war. »Seit fast zwei Jahren, Mylady.«
»Gegen Sie lagen in zwei Provinzen Haftbefehle vor, die wir am Tag Ihrer Einstellung aufgehoben haben, und Sie haben ein langes Vorstrafenregister im Herzogtum Louisiana.« Nancys Miene zeigte kein Erbarmen. »Sie sind ein Schmuggler, Betrüger, Spieler, Dieb, Lügner und Gelegenheitsmörder. Kein Wunder, dass Sie sich bei diesem Lebenslauf für den Spiegel entschieden haben. Nur so aus Neugier, gibt es ein Gesetz, gegen das Sie nicht verstoßen haben?«
»Ja, ich habe niemanden vergewaltigt. Außerdem hatte ich niemals Geschlechtsverkehr mit Tieren. So viel ich weiß, gibt es in Adrianglia ein Gesetz dagegen.«
»Und Sie haben ein loses Mundwerk.« Nancy verschränkte die Arme. »Unserer Vereinbarung mit Ihrer Familie und der Klausel zufolge, nach der wir Ihre Leute aus dem Edge holen, gelten Sie von nun an als Bürger Adrianglias. Ihre Schulden werden in vollem Umfang von Ihrer Cousine Cerise Sandine und deren Gatten beglichen. Ihnen steht es frei, jeden Beruf Ihrer Wahl auszuüben. Trotzdem kamen Sie zu mir. Verraten Sie mir den Grund?«
Kaldar lächelte. »Ich bin dem Königreich für die Befreiung meiner Familie zu Dank verpflichtet. Ich
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