Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition)
konnte es nicht sein. Er würde die weibliche Intuition nie wieder auf die leichte Schulter nehmen.
Audrey kam näher und flüsterte so leise, dass er die Ohren spitzen musste. »Nehmen Sie eigentlich auch mal was ernst?«
»Nein.«
Audrey schüttelte den Kopf, hob das Fernglas an die Augen und blickte auf das Haus drei Meilen unter ihnen hinunter. Kaldar nahm sein Fernglas und tat es ihr gleich. Der Vollmond verschwand hinter Wolkenfetzen, kam wieder zum Vorschein und tauchte das Bauwerk in ein wechselndes Muster aus silbrigem Licht und tiefen Schatten. Umgeben von Palmen und Grün lag das zweistöckige Haus mitten in einer flachen Talmulde. Weiße Bögen beschirmten eine lange Veranda unter einem hellen, orangefarbenen Dach. Das Ganze besaß die Ausmaße eines Fußballfelds. Vor dem Haus lag ein Tennisplatz. Links befand sich eine eingezäunte Pferdekoppel mit weißen Toren. Im Hintergrund zeichnete sich eine Scheune ab, daneben das Haus des Verwalters. Rechts glänzte malerisch ein Swimmingpool im fahlen Mondlicht. Abgesehen von dem Wachturm hinter dem Haus und den Stahlspikes drum herum, die als Anker für den Schutzzauber dienten, wirkte das Anwesen wie die tropische Zuflucht einer spanischen Familie mit unerschöpflichen Geldmitteln.
Das bescheidene Heim von Arturo Pena. Kaldar biss die Zähne zusammen. Wenn Häuser Geschichten erzählen könnten, würde dieses Haus gewiss eine blutige Geschichte erzählen.
Laut Gaston lebte Arturo Pena von den Coyoten, den Menschenhändlern, die Illegale von Mexiko in die Randbezirke des Staates Kalifornien schleusten. Arturo und seine Bande angeheuerten Abschaums lauerten den Fahrzeugen der Coyoten auf, nahmen ihnen ihre Ware ab und verkauften die Menschen auf den Sklavenmärkten der Demokratie Kalifornien. Die Hälfte ging bereits beim Übergang ins Weird drauf, die andere Hälfte folgte wenig später. Es war kein Zufall, dass die Räuberbarone ständig Frischfleisch benötigten, das ihre Felder bestellte, ihre Schlösser baute und in ihren Armeen kämpfte.
Niemand vermisste Penas Opfer. Das Kalifornien im Broken wusste nicht mal, dass es sie gab, das Mexiko des Broken verfügte über keine juristische Handhabe mehr, sobald sie die Grenze überschritten hatten, und die Opfer hatten keine Ahnung, wohin sie gebracht wurden. Wer sein Heil in der Flucht suchte, fand nie wieder über die Grenze.
Pena war ein Hurensohn erster Klasse. Sein Name wurde nur hinter vorgehaltener Hand geflüstert. Obwohl er sie meistens links liegen ließ, hatten die einheimischen Edger Angst vor ihm. Und sie ließen ihn in Frieden – was angesichts der Tatsache, dass Arturo Pena kein Vertrauen in die Banken hatte und angeblich Unsummen Bargeld in seinem Haus aufbewahrte, ziemlich aufschlussreich war. Kein Wunder, fand Kaldar. Geld auf der Bank zog Fragen nach sich, denn es weckte Interesse, so viel war bekannt. Arturo Pena vermied unerwünschte Transparenz, indem er sein Blutgeld zu Hause, in einem vermeintlich einbruchsicheren Tresor verbarg. Eigentlich für jeden Edger eine verlockend reife Frucht.
Kaldar richtete das Fernglas auf den Kreis aus Stahlspikes. Das Wehr zog sich in einem annähernd ovalen Umriss ums ganze Haus und ließ die Scheune sowie die Unterkunft des Verwalters außen vor. Das Wehr konnte nicht sehr alt sein – das Haus war zu neu. Trotzdem stellte der Schutzzauber ein Problem dar. Er sperrte alles Magische aus, darunter Menschen mit Zauberkräften und manchmal auch solche ohne. Wer es vermasselte, sorgte dafür, dass jeder irgendwie für Magie Empfängliche sofort angerannt kam.
Unmöglich. Sie hätten es auf seine Weise machen sollen: unter irgendeinem Vorwand geradewegs zur Vordertür hinein. Allerdings war er bei Audrey und Gaston mit seinem Vorschlag auf Granit gestoßen. Wie es aussah, hatte Arturo Pena die Angewohnheit, ungebetene Besucher zuerst ins Gesicht zu schießen und sich erst danach zu erkundigen, um wen es sich handelte.
Neben Audrey schmiegte sich Ling an die Böschung.
Kaldar beugte sich zu Audrey und flüsterte: »Ich kapiere immer noch nicht, weshalb wir dieses Viech mitnehmen mussten.«
»Weil sie uns hilft«, entgegnete Audrey. »Sie sollten sie mit ihrem Namen ansprechen. Sonst könnten sie ihre Gefühle verletzen.«
Und sie schimpfte mit ihm, weil er angeblich nichts ernst nahm. »Wie genau will sie uns denn helfen?«
Audrey wies mit einem Nicken auf Ling. »Schauen Sie, wie still sie ist. Das heißt, dass Pena keine Hunde hat. Warten Sie
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