Land Spielen
richtig los. Und Moritz rammt das Pfahleisen erneut in den Boden, schlägt wieder und wieder mit dem Vorschlaghammer darauf, zerrt dann am Eisen, rüttelt daran, bis es aufhört, sich am Erdinneren festzuklammern. Moritz rammt den nächsten Pfahl in das neue Loch, traktiert den Pfahl erst ein- und dann beidhändig mit dem Vorschlaghammer. »Ihr werdet schon sehen«, denkt Moritz und weiß nicht recht, wen er mit »ihr« meint.
Und während Moritz schwitzt und stöhnt und schlägt und unsere Wiese umsäumt mit Zeichen des Widerstands, fährt unsere Altenpflegerin auf dem roten Mofa. Das rote Mofa knattert, Vera singt. Sie liebt die Fahrt, die erst die abschüssige Straße hinunterführt, dann durchs Dorf. Nur im Winter war die Fahrt streckenweise anstrengend, Vera musste ihren Gesang unterbrechen, musste sich hangabwärts auf ihre Fußsohlen konzentrieren, die übers Eis schlitterten, während der Motor das Tempo lautstark drosselte. Wortlos schimpfte sie auf die Erfinder von Winter und diejenigen von Mofas, weil Mofas nicht gleichzeitig Schlitten sein können.
Vera fährt auf dem roten Mofa. Sie fährt durchs Dorf, ist froh, dass das Eis geschmolzen ist. Sie grüßt die Dorfbewohner mit zwei Fingern der linken Hand, die rechte gibt konstant Gas, mit dreißig Stundenkilometern verlässt sie das Dorf. Sie freut sich über den Frühling, sie freut sich auf die Strecke zwischen den Dörfern, die leer ist, die lang ist. Vera fährt auf dem roten Mofa, lässt erst Bauern, dann die Fabrik hinter sich, die Straße biegt um einen Hügelausläufer, die Straße ist auch hier noch einmal abschüssig, wird erst wieder flach, wenn die ersten Häuser des Nachbardorfs auftauchen.
Vera auf dem roten Mofa. Sie ist die Einzige von uns, die gerne zur Arbeit geht. Vielleicht, weil sie zur Arbeit fährt. Vielleicht, weil sie von der Arbeit keine Aufgaben mit nach Hause nehmen, vielleicht, weil sie sich nicht wie andere von uns in den Pausen in Selbstverteidigung üben muss. Wahrscheinlich auch, weil sie machen darf, was sie sich ausgesucht und was sie gelernt hat. Während unser Ältester am Arbeitsplatz bloß Geldverdiener ist: In der Gemeindestube schiebt er jeweils Blätter hin und her, sucht sich lange und umständlich die passendsten Büroklammern aus, um ja nicht zu schnell zu sein, überflügelt auch so die andere Gemeindeschreiberhälfte. Moritz’ Job ist es, unauffällig die ganze Gemeindeschreiberarbeit zu machen und dabei nicht vor Langeweile umzukommen. Vera hingegen spielt gerne Sisyphus, sie stellt sich den Altersheimbewohnerinnen täglich vor, muss sich um Alltag und frische Windeln kümmern. Sie mag die Damen und Herren, auch wenn sie von den meisten regelmäßig beschimpft wird, weil sie plötzlich doch nicht ihre Tochter ist oder weil sie es wagt, ihnen an die Wäsche zu gehen.
Die Witwe des Fabrikanten beschuldigt unsere Mofafahrerin täglich. Die Witwe des Fabrikanten fühlt sich bestohlen. Die Witwe des Fabrikanten kann nicht sagen, was es ist, das ihr wegkommt. Die anderen Pflegerinnen halten sie für dement. Offenbar scheint nur Vera zu wissen, dass die Witwe des Fabrikanten heimlich raucht, dass es wahrscheinlich die Zigaretten sind, die ihr seltsamerweise frühzeitig ausgehen.
Rauchen ist auf den Zimmern verboten, nur am Ende jedes Flurs ist es erlaubt. Die Witwe des Fabrikanten rollt dort mit emporgereckter und gerümpfter Nase vorbei, ist stolz auf ihre Gesundheit, schimpft über Menschen, die sich nicht im Griff haben. Und sie schimpft über Diebe, allerdings bleibt die genaue Anklage wie gesagt im Dunkeln. Klar wird bloß, dass die Witwe des Fabrikanten nicht ins Altersheim gehört, dass sie etwas Besseres verdient hat, dass sie sich ein Leben lang gut um sich gekümmert hat, dass sie es nicht verdient hat, beim Frühstück, beim Mittag- und beim Abendessen den Tisch mit all diesen sabbernden, schreienden, kranken Alten zu teilen. Sie hat es nicht verdient, bestohlen zu werden.
Die Witwe des Fabrikanten bleibt lieber auf ihrem Zimmer, unsere Pflegerin spielt Zimmermädchen, wechselt Bettwäsche, übersieht kommentarlos die Schachtel Zigaretten unter der Matratze, arbeitet unabgelenkt und schweigend, während die Witwe des Fabrikanten vom Fabrikanten erzählt und von der Fabrik.
Die Witwe des Fabrikanten empört sich über die neue Zeit, die ein Familienunternehmen zu vernichten weiß.
Die Witwe des Fabrikanten empört sich über Fabrikantennachfolger, die nicht mal mehr Industrielle sind, sondern
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