Land Spielen
wirklich wollten, oder dass sie vergessen haben, sich dafür zu entscheiden. Dass sie überhaupt vergessen haben, sich zu entscheiden. Damals mit zwanzig. Mit fünfundzwanzig. Mit dreißig. Dass sie immer nur das Nächstbeste und Naheliegende wählten und allenfalls von einem Leben in Vororten träumen können, wo es grün ist und die Stadt erreichbar, für den Fall, dass eine größere Kleinkinderturnschuhgröße fällig wird oder eine andere Marke oder ein neues Paar für ein neu gezeugtes Kleinkind.
Moritz schimpft über Krisen, die der Autobesuch nicht zu haben scheint, dieser wirft ihm vor, zu übertreiben, fügt ein »Wie immer« an, sagt, er plane tatsächlich, in einen Vorort zu ziehen. Er habe eine Doppelhaushälfte in Aussicht. Die andere Hälfte sei noch zu haben, er habe an uns gedacht, man könne sich dann ja auch dieses Häuschen hier teilen, für Urlaube und Wochenenden. Abwechselnd, verstehe sich. Hier passten ja schon fünf Leute kaum hinein, geschweige denn neun, sagt der Freund, der uns meint und sich, seine Frau und seine zwei Kinder.
Moritz bleibt ungehalten, sagt: »So?!« Und fügt an: »So!« Sagt, dass er, der Besuch, doch machen könne, was er wolle, wir hätten schon ein Zuhause, und zwar dieses hier, und wir hätten jetzt zu tun, und zwar müssten Hühner geschlachtet werden.
Wir schauen Moritz staunend an, sehen ihm zu, wie er in die Gummistiefel schlüpft, wie er weiterwettert, hören ihn sagen, dass das hier kein Urlaub sei, sondern Arbeit, dass der Freund gerne zuschauen dürfe, wenn er die Nerven dazu habe, dann sehe er einmal, wie das im wirklichen Leben so sei.
Wir schreiten in Richtung Scheune, vorne mit großen, wütenden Schritten Moritz, dahinter neugierig und freudig ausschreitend Fabian, Vera versucht, die Spitze einzuholen, versucht, die Holzpantoffeln nicht zu verlieren, in die sie noch eilig schlüpfen konnte. Während sie Beschwichtigendes ruft, während sie sagt, das habe doch alles Zeit bis irgendwann, man habe das mit dem Hühnerschlachten schließlich noch nicht wirklich entschieden, zieht Ada lange, trübsinnige Linien in den Kiesweg, schlurft traurig zur Hinrichtung ihrer Liebsten. Offensichtlich amüsiert überholt sie der Besuch, sorgt sich höchstens um seine Stadtschuhe, neben denen zu große Gummistiefel schreiten, in denen Ralf steckt, der sich erinnert, dass der Besuch doch eigentlich ein Freund war.
Wir wissen, wie Hühner geschlachtet werden, haben uns eingelesen, haben uns gemerkt, was es braucht: zwei Eimer, einen Hackklotz, ein Beil und starke Nerven. Wir haben Eimer, Klotz und Beil. Aber nicht alle haben die Nerven, wir waren immer uneins, was das Schlachten anbelangt. Wir fanden, dass Hühner auch ungeschlachtet nützliche Tiere seien, haben mit Legequote argumentiert, haben Tierliebe ins Feld geführt und den Schlachtaufwand, haben davon gesprochen, doch erst einmal zuzuschauen bei jemandem, der das Handwerk beherrscht.
Die Hühner haben ein gutes Leben, genießen mittäglich Sandbäder hinter der Scheune, erkunden die Welt unumzäunt, gehen nicht weit und finden den Weg auf die grau verkotete Stange allabendlich zurück. Hühner sind kurzsichtig, nach fünfzig Metern hört die Welt auf, ihr Zuhause behalten sie im Blick. Kurzsichtigkeit bewirkt Heimatliebe, macht, dass man beim Altbekannten bleibt. Dass man nur das Naheliegende findet, weil man nicht auf die Idee kommt, das Richtige zu finden. »Hühner sind wie du«, sagt Moritz und meint den Landkritiker, der ihn unterdessen eingeholt hat, der mit sarkastischem Grinsen neben der Hühnerschar steht. Die Hühner werden in die Scheune getrieben, unser Hühnerschlachter rollt den Hackklotz nach draußen. Er ist der Richter, der »schuldig im Sinne der Anklage« beschließt, ist der Henker, der das Beil wetzt. Wir haben die Anklageschrift nicht gelesen, hätten sie nicht verstanden, was wir verstehen, ist, dass hier ein Exempel statuiert wird. Das Todesurteil trifft das jüngste Huhn, seine Verteidigung ist ein kurzes, ahnungsloses Flattern, Moritz hält es umfasst, streicht über Kopf und Rücken, flüstert »Keine Angst!«, als gelte die Beschwörungsformel den Zuschauern und ihm selbst.
Hühner schlachtet man am besten morgens, wenn die Gedanken noch geschärft und die Tiere noch schläfrig sind. Aufgeregte und ängstliche Tiere wollen ihr Blut nicht hergeben, machen das Fleisch zäh. Aufgebrachte Schlachter neigen außerdem zu Unaufmerksamkeit, ihnen fliegen kopflose Hühner vom Schafott, die
Weitere Kostenlose Bücher