Land Spielen
selbst nach dem Tod noch versuchen, demselbigen zu entrinnen. Wir haben das noch nie gesehen, haben uns aber eingelesen, wollen solcherlei Spektakel vermeiden und wollen die Aufführung vorzeitig beenden. Wir legen dem Regisseur der Veranstaltung die Hand auf den Arm, in dem das zum Tode verurteilte Federvieh zittert. Wir sagen, er solle es gut sein lassen, auch der Gast legt sein Grinsen ab, meint, man könne gerne wieder zum Haus gehen, er habe die Antwort verstanden. Er finde schon jemand anderes für die Doppelhaushälfte. Man scheine hiermit ja glücklich zu sein. Der Beschwichtiger macht dazu eine unglückliche Geste, zeigt aufs Haus, das er vorher noch als zu klein und zu schäbig bezeichnet hat, zeigt auf unsere Wiesen, die er unser »Projekt« nennt. Er sagt, man solle das arme Huhn doch leben lassen.
Wir wissen, dass hier der Städter spricht, dass Städter keine Ahnung haben vom Landleben, dass sie keine Ahnung haben von der Natur und von der Realität. Ihr Coq au Vin war auch einmal lebendig, ließ sein Leben wohl in einer entsprechenden Fabrik, wir entscheiden uns fürs Handgemachte, wollen guten Gewissens essen können, was wir selbst gefüttert, gestreichelt und erlegt haben. So ist das Landleben, sagt unser Redner, und der Autobesitzer solle doch einfach in die Stadt zurück„fahren, in sein Leben, er solle ruhig die Doppelhaushälfteneinrichtungspläne mit dem Innenarchitekten besprechen und mit seiner Frau, dann habe er wenigstens ein Thema, über das er mit ihr reden könne. Sie sollen alles vermeiden, das mit echtem Leben zu tun habe, sollen sich entspannen und sich in eines dieser Paare verwandeln, die sich hinter Sachzwängen verschanzten und mit Affären abreagierten, um keine echten Entscheidungen fällen und nicht über wirkliche Dinge reden zu müssen. Sie sollen doch bleiben bei ihren gut bezahlten Stellen, die sie hassten und die eine perfekte Ausrede böten, kein selbstbestimmtes Leben führen zu müssen. In dem man sich vielleicht keine Doppelhaushälfte leisten wolle und keinen Fünftürer für den Arbeitsweg vom Vorort in die Stadt. Man brauche diese Ausgaben nicht, die eine schöne Ausrede seien für einen öden Job, der eine schöne Ausrede sei für ein ödes Leben, an dem man zum Glück nicht schuld sei, denn schuld seien ja die Umstände. Und wegen der Umstände rede man immer weniger miteinander, oder bloß noch über Inneneinrichtung. Und die Umstände zwängen zu Streitereien, zu Affären und dazu, das wahre Glück nie zu erreichen. Und dabei greift der Redundant- und Lautgewordene nun endlich mit der Rechten zur Axt, stellt sie neben den Hackklotz, neben dem schon der eine Eimer bereitsteht.
Ja, sagt der Redner, klar, wenn man lebe, wie man möchte, dann sei das natürlich schwerer. Dann fehlten die Ausreden. Dann sei man auch selbst schuld, wenn man nicht glücklich werde. »Aber hier sind wir glücklich, hier geht es uns gut! « Denn das hier sei ausredenlos und echt und wahr. Und zum wahren Leben gehöre eben auch der Tod, das dürfe sich der Besucher gerne einmal anschauen.
Der Redner schreit beinahe, das Huhn in seinem Arm zittert. Er streicht über das Gefieder, greift mit der Linken die Beine, umfasst mit der Rechten die Flügel und legt das Tier Brust und Bauch nach unten auf den Hackklotz.
Der Henker hält die Totenrede, der Verurteilten stehen keine letzten Worte zu. Der Redner spricht davon, dass er gerne so lebe wie hier und wie jetzt. Und davon, dass der Gast gerne in diesem Geht-es-jetzt-immer-so-weiter?-Sumpf weiterstapfen dürfe. Er kenne das, sagt Moritz. Er habe das gekannt. Aber dann habe er, Moritz, den Ausweg gesehen. Und Vera habe gesagt: »Lass es uns einfach tun.«
Und obwohl Vera jetzt sagt: »Lass es einfach, tu es nicht«, greift der Schlachter mit der Rechten das Beil, wiegt es kurz in der Hand, als wolle er es in die Luft werfen. Er prüft das Gewicht, sucht den besten Griff am hintersten Ende des Stiels, überlegt es sich noch einmal anders, dreht die Mordwaffe einhändig um. Er hält das Beil nun beim Eisen, zeigt mit dem Stiel auf den Hühnerhinterkopf, holt kurz aus, und mit einer undramatisch zackigen Bewegung schlägt er mit der Holzseite auf die anvisierte Stelle.
Die Geschlagene wird ohnmächtig.
Wir kennen diesen leeren Gesichtsausdruck, haben ihn selbst schon herbeigeführt, wenn wir Hühnerumdrehen spielten: Man hält den Körper des Tieres umfasst, drückt ihn auf den Boden, kippt ihn langsam zur Seite. Das Huhn versucht, die
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