Land Spielen
verschafft sie sich viel zu selten, lieber sänge sie nur auf dem Weg zur Arbeit, lieber ließe sie bloß die Monologe der Fabrikantenwitwe auf sich einplätschern, lieber bliebe sie stumm, weil es nichts zu sagen gibt außer: »Schön ist es hier.«
Aber auch Vera kann ihre Ruhe verlieren, ungeduldig steht sie im Altersheimzimmer, im Kopf Moritz’ gestrige Gewalttat. Vera hat die Rede wohl gehört, hat rausgehört, dass das Wort Affäre viel zu oft fiel. Und dass Moritz zu sehr über sich sprach und zu nachdrücklich, um sich nicht zu verraten. Ein Geständnis war sie, diese Verteidigungsrede. Kein Zweifel, dass sich Veras Zweifel bewahrheitet haben.
Vom Sessel aus doziert nun die Witwe des Fabrikanten: Wie jeden Tag schimpft sie über Diebe und die neue Zeit, wie jeden Tag holt sie weiter aus, beginnt wie jeden Tag bei ihrem Großvater und beim Aufschwung. Vera macht ihre Arbeit hektisch, tastet nach der Zigarettenschachtel, die verlässlich unter der Matratze steckt. Die Witwe des Fabrikanten ist beim Kauf der Fabrik, kommt bei den Italienerinnen an, die an„kamen in der Gegend, die Italienerinnen, die am Feier„abend über den Dorfplatz stöckelten, die Italienerinnen, die so manchem Bauer den Kopf verdrehten, die Italienerinnen, die von den Bauersfrauen verabscheut wurden. Vera schießen unvermittelt die Tränen in die Augen, sie umschließt die Zigarettenschachtel in ihrer Hand, droht sie zu zerdrücken. Die Witwe des Fabrikanten holt Luft, setzt an zur Fortsetzung, die bei zerbrochenen Familien und beim Traualtar der Dorfkirche ansetzt und zur Fabrikantenhochzeit in der Stadtkirche führt. Und endlich bricht es aus Vera heraus: »Wissen Sie was? Rauchen sie doch eine, ich mache Pause!« Sie fummelt eine Zigarette aus der Schachtel, streicht sie glatt, drückt der verdatterten Greisin die Schachtel in die Hand und verlässt das Zimmer.
Man wartet auf Schreie wie »Diebin!« oder »Was bilden Sie sich ein?!«, aber der heimlichen Raucherin hat es wohl den Atem verschlagen.
Im Altersheimgarten saugt Vera am Glimmstängel, als hinge ihr Leben davon ab, statt Beruhigung steigt ein Zittern in ihr auf, das nur zur Hälfte vom Nikotin stammt.
Auf gewisse Dinge ist Verlass, zum Beispiel auf den Auftritt des Dorfpfarrers, der immer durch ein Quietschen von Reifen auf Auffahrtsasphalt eingeleitet wird, dann seine Fortsetzung findet in einem offenbar alltäglichen schnellen Blick um die Ecke, ob jemand beim Vordach steht, und in der ehrlichen Freude, dass dieser jemand einmal mehr Vera ist. Verlass ist auch auf sein freudiges »Hallo«, das dandyhafter klingt, als sein salbungsvoller Beruf vermuten ließe. Vera wirft ihre Kippe auf den Boden, zerquetscht und zerreibt sie mit dem Fußballen auf der Steinplatte. »Man muss es gründlich machen, sonst überlebt sie noch aus Versehen und muss leiden«, kommentiert der Pfarrer.
»Bitte?«, fragt Vera.
»Zigarette?«, fragt Rudolf.
Vera bedient sich, ignoriert die Fröhlichkeit des Pfaffen, gibt sich selbst Feuer, schnippt das Streichholz in die Rabatte.
Der Herr Pfarrer weiß, wie Trauer aussieht, kennt alle ihre Stadien: kennt Schock, kennt Verdrängung, kennt die Wut, bloß Vera hat er noch nie so gesehen. Eine Zigarettenlänge lang kann sie ihm nicht ausweichen, so gierig wie Vera den Rauch einsaugt, bleibt ihm wohl wenig Zeit, also lässt der Pfarrer das Eingangsgeplänkel: »Was ist los?«
»Nichts ist los, alles bestens, danke.«
»Ach so.«
»Ja, ach so. – Scheiße.«
Er schweigt.
Sie schweigt.
»Du musst es mir nicht erzählen.«
Vera macht ein paar Schritte auf dem Rasen, Rudolf bleibt stehen, beobachtet das Schauspiel, wartet, bis sie eine halbe Pirouette gedreht hat, bis sie auf das dürre Geäst des Blumenbeets starrt, bis sie endlich rausrückt mit der Sprache.
»Ich mag es hier. Ich mag es wirklich hier. Es ist schön. Es ist ruhig. Es ist, wie wir es uns immer ausgemalt haben: die Natur, das Land, die Familie. – Es ist nichts, wie es sein sollte.«
Dann wieder Schweigen.
Der Trick besteht darin, nichts zu sagen, nicht in die Lücke zu springen, die sich jetzt auftut, nicht zu raten, worum es gerade geht, und nichts über die engstirnigen Dörfler zu sagen oder über das Leben, das immer anders ist, als man es sich vorstellt, nichts über Unergründlichkeiten und schon gar nichts über Gottes Wege.
Vera starrt weiter Löcher ins Beet, das Zittern ebbt langsam ab: »Wir haben alles richtig gemacht und jetzt ist alles falsch. Wir haben
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