Land Spielen
Linien blieben, zwischen die man die Buchstaben klemmen soll. An der obersten Linie soll man die Großbuchstaben aufhängen, ein kleines L darf die Höchstmarke erreichen, der untere Bogen soll auf der zweituntersten Linie stehen, nur bei kleinen Gs und Zs darf man den Bogen weiterspannen, er soll tiefer gehen, die unterste Linie treffen, da, wo ansonsten nur die von J und Y und der Strich von F und P und Q hindürfen. Ansonsten immer schön auf der zweituntersten Linie bleiben! Auch wenn die Schrift geneigt sein soll, auch wenn sie schnörkelt und ohne Unterbruch zusammenhängt, täuscht sie Fabian nicht darüber hinweg, dass hier jeder Teil in Reih und Glied zu stehen und nach der Norm auszusehen hat. Ausschweifungen sind nicht erwünscht, genauso wenig wie Inhalte. »Fuchsschwanz« wäre ein schönes Wort, man könnte übers Bäumefällen schreiben oder auch über das entsprechende Tier, das wir noch nie zu Gesicht bekamen, außer in den Illustrationen der Schulbücher, die alle gerne lesen außer Fabian, der sie deswegen nicht gerne liest.
Er schmiert Buchstaben aufs Blatt, lässt die Schelten des Dorflehrers gerne über sich ergehen, zu überschwängliche, zu krumme oder zu gerade Buchstaben kümmern Fabian nicht, er will nicht schreiben lernen, und wenn, dann bestimmt nicht schön.
Immer soll alles schön sein, er kann es nicht verstehen. Denn meist ist es nicht schön, meist muss man lernen oder prügeln und das machen, was alle machen. Statt Aufsätze zu schreiben, übt er lieber Aufstände, lehrt uns Disharmonie, ein Fach, in dem wir anderen schlechte Noten haben, weil wir es nicht lernenswert finden.
Fabian will nicht in der Schule sein, wäre lieber bei seinem Freund Herr Mirko und würde Wichtiges über Milchherstellung lernen. Doch Herr Mirko ist an Pfingsten aufgefahren. Nicht ganz bis in den Himmel, bloß bis knapp darunter ist er mit den Kühen gezogen. Glockengeläut begleitete die Prozession, die Tiere waren bis auf ihre Instrumente ungeschmückt, Dorfbewohner schienen sich für den puristischen Umzug kaum zu begeistern, nur ein paar Autofahrer hielten an, staunten und hupten.
Allen voran zog der Nachbarsbauer des Nachbarsbauern, er wird wieder hinunterkommen, wird im Sommer Gras mähen und sich um Rinder kümmern, während Herr Mirko, der im blau-weißen Blumenhemd das Feld abschloss, den Sommer über seiner erklärten Lieblingsbeschäftigung nachgehen darf: der Langeweile. Fabian hätte ihm gerne ein wenig seiner Aufgabe abgenommen, wäre gerne mit dem Jugoslawen in die Höhe gezogen, er hätte gelernt, wie man Käse macht und wie man mit Einsamkeit umgeht. Er hätte mit Herrn Mirko über früher gesprochen: damals in der Stadt (Fabian), damals im Krieg (Mirko). Oben auf der Alp wäre Herr Mirko vielleicht gesprächiger, hier unten bekam Fabian selten Antworten auf die wichtigsten Fragen: Wie geht Krieg, wie geht Schießen? Fabian muss sich die Antworten selbst ausmalen, es bleiben Cowboyfantasien, in denen Fabian am liebsten Indianer ist.
Die Kuhtreiber kamen am Pfingstsonntagabend schon wieder zurück, der Jugoslawe blieb oben allein, Fabian blieb im Dorf. Wir ließen ihn nicht aufsteigen. »Wir können ihn ja einmal besuchen gehen, so weit ist es nicht, der Weg nach dem Bach bei der Schranke hoch und dann ganz nach hinten, da ist der sogenannte Unterstafel, das ist bestimmt eine schöne Wanderung, die machen wir einmal.«
»Was heißt Unterstafel?«, fragt Fabian, er weiß jetzt schon, dass wir nie wandern gehen. Denn im Frühling ist der Ofen explodiert: ein Knall, eine verrauchte Küche, dann war der Ofen aus. Wir mussten erst zittern um unser Haus, dann wegen der Frühlingskälte. Nun hat unsere Altenpflegerin ihr Arbeitspensum verdoppelt. Damit wir den nächsten Winter überleben, übernimmt sie beinahe täglich die unbeliebten Spätschichten und ist an den Vormittagen müde und nicht in Wanderlaune. Und die Kleineren von uns sollen täglich Wichtigeres lernen als Käsemachen. Sollen die Buchstaben in Reih und Glied und in der richtigen Reihenfolge ordnen.
»Fabian, das gilt übrigens auch für dich.«
Die Schulkinder sollen dem Dorflehrer zuhören, wenn er etwas sagt, sollen nicht aus dem Fenster starren und davon träumen, Mofafahrer zu werden. Oder noch lieber: Jugoslawe.
Aber plötzlich herrscht zischelnde Aufregung, Fabian schaut auf von den ungeliebten Linien, sieht, dass heute sein Bruder der Unruhestifter ist:
*
Ralf hat den Dorflehrer einen Pimmellutscher genannt.
Ralf
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