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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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aber seine Sehnsucht nach diesen verlorenen Geschmäckern und der tropfenden Säuernis von Augustäpfeln, die ganz schnell faulten und deshalb rasch verzehrt werden mußten, war in Havanna nicht einzusehen, alles faulte, verweste schnell. (Und vieles schmeckte zu weich und zu süß, als wollten die Kubaner ihre Zähne schonen.) Augustäpfel – daß er später in Bettnang einmal so viele Namen von Apfelsorten lernen, die Pflege und Aufzucht der Bäume kennenlernen würde, daß die Äpfel, nach denen er sich jetzt sehnte, einmal ein Glück sein würden, wäre ihm in diesem Augenblick, während er Charidad von den Äpfeln vorschwärmte, undenkbar, unvorstellbar gewesen. Was sollte gut sein an einer sauren Frucht? Charidad war das Süße gewohnt und war selbst sehr, sehr süß. Und hätte Richard ihr das gesagt, sie hätte es auch nicht verstanden. Warum sollte sie süß sein? Wenn vielleicht alles, was sie umgab, was sie kannte, süß war? So dachte er manchmal, wenn sie sich gegenübersaßen in ihrem kleinen Untermietzimmer und sie sorgfältigst einen Packen Hefte mit Mathematik-Aufgaben korrigierte, während er die Emigrantenzeitschriften mit schauerlichen Nachrichten über den Kriegsverlauf las.
    Dann im August wurde Charidad nervös, aß nicht, schimpfte auf alles Mögliche. Was hast du denn?, fragte ihr Geliebter fürsorglich, er wußte, daß er nicht das Ziel ihres Zornes war. Aber sie antwortete ausweichend, und so mußte er doch in sich graben, ob er sie verletzt hatte. Nein, er war sich keiner Schuld bewußt. Sie zog sich zurück, zuckte bei einer Berührung, verschwand, wenn sie zusammen in Máximos Hotel waren (Kornitzer war überall gerne mit ihr, er konnte sich auch eine der heißen Hütten am Stadtrand vorstellen, ungestört, ungeschützt, Tropentage, Tropennächte, in der Hitze gegerbt und ausgesetzt), überlang in der Gemeinschaftstoilette, ja, der, in der die Kröte lebte, bis jemand an der Tür rüttelte. Und Charidad kam zurück, schimpfte auf den Störenfried, nestelte an ihrer Kleidung, packte die Hefte zusammen und wollte keineswegs über Nacht bleiben, wie sie es noch vor zwei, drei Wochen gerne getan hatte. Und wenn Kornitzer am anderen Tag in der Kanzlei sich von Señora Martínez im kontemplativen Pause-Machen anstecken ließ und über seine so nervöse Geliebte nachdachte, wußte er plötzlich mit allen Fasern seiner Erinnerung an Claire: Sie sucht ein winziges blutiges Fleckchen in ihrer Wäsche, und sie findet es nicht. Das ließ ihn einerseits erstarren, aber auch klar sehen. Und zum ersten Mal holte er die sehr geehrte Lehrerin, Señorita Pimienta, von der Schule ab, halbwüchsige Jungen starrten ihn an, steife Matronen, ein Priester, ja, er wartete auf die strenge, junge Lehrerin, das war deutlich (auf wen sonst?), und Charidad war vollkommen überwältigt, ihn zu sehen. Er sprach jetzt in stotterndem, keinesfalls elegantem Spanisch von seinem Verdacht, dem Mangel eines winzigsten Blutfleckchens, das durch einen großen Teich von Glück ausgeglichen werde, durch den sie doch gemeinsam schwammen, er strahlte sie an. Er hoffte, daß sie „ja“ sagte, aber sie sah mausig aus, biß sich auf die Lippen und sagte gar nichts. Und dann ließ sie sich verleugnen bei ihrer Zimmerwirtin, einer verwitweten Dame, die die hochtrabende Nase gerne in alles Mögliche steckte, und Kornitzer mußte sich mit Geduld wappnen. In der Kanzlei überwachte er Termine, Termine, Mahnungen, Fristverletzungen, Einspruchsfristen, die Kontoführung, und nun rechnete er in einem weiblichen Kalender, den zu führen ihm nicht gestattet worden war.
    Dann kam Charidad doch wieder in Máximos Hotel, ohne Verabredung, Hans Fittko hatte sie gesehen, „deine Geliebte hat nach dir gefragt“, und Richard flog, flog, flog, und als er sie fand, hatte er das Empfinden, ein flatterndes verlorenes Vögelchen in den Armen zu haben, mit einem zitternden, verschwitzten Federkleid. Ja, es war wahr, sie war schwanger und in keiner Weise darauf vorbereitet. Und die unbändige Freude, die ihn bei Claires Schwangerschaften erfaßt hatte, eine Freude, die in die Zukunft gerichtet war, verflog auch, als er Charidad ansah, verheult, kläglich, mit angezogenen Beinen auf einem Stuhl balancierend, die Arme, die sich in seiner Erinnerung nahezu immer um ihn schlangen, nun eng um die eigenen Knie gepreßt. Was soll denn werden? Und Kornitzer, der es als ein Geschenk empfunden hatte, daß er ihr von seiner Ehe, seinen Kindern erzählen durfte,

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