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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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ihr kaum zeigen konnte, aber ihn auch bitter machte gegen sie. Er wußte ja, daß sie unendlich mehr litt. Charidad regelte die Unterbringung des Kindes, sie regelte, daß sie mit einem Sonderurlaub, mit Gott weiß welchem Attest (auch mit welcher Bestechung?, ihn schauderte) die Schule verließ und danach wieder ihre Klasse übernahm, aber er kam sich unsagbar nutzlos vor, entfremdet, die Kinder in England, seine freudige Erinnerung an Claires Schwangerschaften fern (die Mühsal hatte er vielleicht übersehen oder verklärt), ja wirklich der „Frucht seines Leibes“ entfremdet.
    Und dann, an einem festgesetzten Termin, reiste Charidad mit wenig Gepäck in die kleine Stadt im Osten der Insel, Guantánamo war nicht weit, Santiago war nicht weit, er brachte sie zur
Estación Central
. Es war ein würdiges Gebäude aus dem Jahr 1912, zwei luftige Türme, wie Schinkel oder Persius sie auch in Berlin hätten bauen können, zwischen ihnen der breit gelagerte Bau, im Giebel eine große Uhr. Die Vorhalle war durch zwei Galerien gegliedert, dahinter eine weite und gleichzeitig flache Haupthalle, in der unzählige Stühle und Bänke standen. Ein Sockel von wassergrünen Fliesen, darüber ein Fries von eierschalenfarbenen und blauen Fliesen, ein Terrazzoboden, über den schon unzählige Füße geschlurft, auf denen unzählige Abschiede zelebriert worden waren. Die Passagiere waren das Warten gewohnt. Zur westlichen Seite war die Halle offen, damit frischer Wind hineinströmen konnte. Es war ein Kopfbahnhof, die Gleise waren durch eine Absperrung von der Halle getrennt, dahinter stand der Schaffner und prüfte die Fahrkarten. Der Begleiter durfte bei der Verabschiedung die zu Verabschiedende nicht bis zur Wagentür geleiten. Plötzlich war er allein, und sie verschwand zwischen den Reisenden.
    Kornitzer hatte Charidad am Vorabend gesagt: Bitte, ich kann nicht sehr viel tun für unser Kind in der nächsten Zeit, du hast es mir klargemacht, ich störe nur mit meiner Fremdheit, ich errege Anstoß. Aber um etwas möchte ich dich bitten. Wenn es ein Mädchen ist, gib ihm den Namen Amanda, und wenn sie ein bißchen größer ist, erkläre ihr, warum sie Amanda heißt. Ich möchte sie so gerne liebhaben und bei uns haben, aber du hast geklärt, warum es nicht geht. Und bitte erkläre es auch deiner Kusine und grüße sie unbekannterweise von mir. Wenn das Kindchen ein Junge wird, entscheide, wie du willst. Wenn du den Namen Ricardo wählst, freue ich mich. Seine Rede hatte er sich in der Rechtsanwaltskanzlei, die Wand anstarrend, schön zusammengereimt, und er schnurrte sie herunter, vielleicht zu vernünftig, vielleicht hätte er Charidad einfach umarmen müssen, so leidenschaftlich, daß sie dablieb. Aber das war ein Märchen, eine Szene aus einem schlechten Roman.
    Und nach der Trennung am Bahnhof, an die er sich später kaum erinnerte (im Gegensatz zu der Trennung in Berlin, was ihn beschämte), wußte er: Alles Tun ist vergebens, ich bin eine Nebenrolle in einem Drama. Es folgten dumpfe Tage, Stumpfsinn, Düsternis, Warten, Warten. Und dann bekam er Post, er hatte lange keine Post mehr in Havanna bekommen, von wem auch?, ja, es ging Charidad gut (sie behauptete es jedenfalls) und dem Kind auch. Es war ein Mädchen, und sie hatte es wirklich Amanda genannt. Wie die standesamtliche Eintragung lautete, Amanda Pimienta oder nach dem Ehenamen der Kusine – sein juristisch geschultes Gehirn mußte Pause machen –, schrieb sie nicht. Sie war keine gute Briefschreiberin. Für die junge Mutter waren Fakten vielleicht auch nebensächlich, aber für den Juristen nicht. Und während er in der Anwaltskanzlei einen heißen Nachmittag vertrödelte, Señora Martínez war schon früher gegangen, weil sie Kopfschmerzen hatte, legte er, wie es seine Art war, eine Akte an: Amanda Pimienta, dann eine zweite: Amanda Kornitzer Pimienta, dann noch eine Mappe, wie bei Fällen, wenn noch nicht geklärt war, ob die Kanzlei Santiesteban Cino das Mandat übernähme: Amanda ?? Kornitzer hatte sich kundig gemacht: In Kuba erhielt ein eheliches Kind den ersten Namen des Vaters und den ersten Namen der Mutter, so blieb der Name der Mutter eine Generation erhalten. Aber wie war es bei einer unehelichen Geburt? Das Kind erhielt den Namen der Mutter und, wenn der Vater es anerkannte, auch den Namen des Vaters.
    Und dann ging er zurück in Máximos Hotel, setzte sich in den Hof, wo schon ein paar Emigranten saßen und offenbar sehr vergnügt waren, in

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