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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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nach Luft, wischt sich mit dem Ärmel das Gesicht, leckt sich die Lippen. Als würde sie verdorren. Nierensteine, Grieß in der Blase, Eiweißschaum im Urin sind die äußeren Zeichen, die Tränenflüssigkeit schwemmt etwas fort, das wie ein Kloß in ihr sitzt. Richard legt ihr die Hände auf die Schultern, beruhigt sie, umarmt sie, aber doch nicht wie ein Mann seine Frau umarmt, eher stehen sie da wie Kameraden im Unglück in der Küche des falschen Schwarzwaldhauses. Als hätte die Trauer sie zusammengeschweißt, die Trauer über die Jahre, in denen sie sich verloren gegeben hatten.
    An einem blassen Frühlingstag bei einer unscheinbaren Sonne über den Rheinwiesen läßt Kornitzer im Landgericht mitteilen, er habe infolge des Vortrages des Professors Heinrich Kranz – einer freiwilligen Fortbildung der Richter am Landgericht, an der er teilgenommen hatte – einen Herzanfall erlitten. Professor Kranz war der neue Chef der Universitäts-Psychiatrie in Mainz. Er war nur ein wenig älter als Kornitzer, er hatte in Bonn eine dünne Doktorarbeit über Vererbung geschrieben, hatte fünf Generationen einer Familie mit krausem Haar analysiert,
eine ganz ungewöhnliche Kraushaarigkeit, die geradezu an das Negerhaar erinnerte
. Am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik hatte er seine Karriere begonnen mit einer Arbeit
Die Haare von Ostgrönländern und westgrönländischen Eskimo-Mischlingen
. Auch über spiralig gedrehtes Haar und die Vererbung von Rothaarigkeit beugte er sich. Offenbar hatte er einen Haartick. Auf der einzigen Photographie, die sich im Archiv der Mainzer Universität von ihm erhalten hat, steht er im Kreise anderer Universitätsmitarbeiter vor einer Maschine, auf der Toilettenpapier produziert wird. Die Toilettenpapier-Firma war seit der Gründung der Universität eine Fördererin der Universität. Der Psychiatrie-Professor schaut gebannt, lächelnd führt ein Arbeiter die Maschine vor, die mehrere Rollen gleichzeitig aufspult. Auf Professor Kranz’ Kopf ist in der Mitte eine dünne dreieckige Haarsträhne zu sehen. Als habe die Natur ihn für seine einseitige Forschung mit schütterem, im Wuchs an Schamhaar erinnerndes Haupthaar bestraft.
    Mit seinen wissenschaftlich verbrämten Neigungen blieb er nicht allein, die rassenhygienische Haarspalterei trieb Blüten: Farbunterschiede zwischen Kopf- und Schamhaar, selbst zwischen Achsel- und Schamhaar wurden erforscht. Der Rassenhygieniker Duis trug die Erkenntnis bei, daß zwei (!) angeblich verwahrloste Fürsorgezöglinge rötliches Kopfhaar, aber braune Schamhaare haben, an Psychopathinnen will er häufig büschelförmige Schamhaare entdeckt haben. Heinrich Kranz’ Weg war eine typische Karriere, die mit Erblehre begann und mit Zwillingsforschung aufstieg. Beugefurchen der inneren Handfläche von ein- und zweieiigen Zwillingen wurden geprüft und Fingerabdrücke. Zwillingsforschung: das Lieblingskind von Doktor Mengele, von der wieder sein Lehrer Otto von Verschuer profitierte, der auch Kranz als Mitarbeiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie förderte. Verschuer, ein ehemaliger Frontsoldat, galt als politisch zuverlässig und war bestens in die rassehygienische Bewegung eingeführt. Das Institut erarbeitete eine Zwillingskartei mit vielen Hunderten von Zwillingspaaren. Von Anfang an rückte diese „Wissenschaft“ in den Brennpunkt politischer Interessen, bis sie mit Hilfe der SS, des Ahnenerbes, zu einer Art von
nationalsozialistischer Hofwissenschaft
umfunktioniert wurde. 1933 war Kranz von einem übereifrigen Mitarbeiter des Instituts als dem Zentrum nahestehend denunziert worden. Er mußte das Kaiser-Wilhelm-Institut verlassen, obwohl er Mitglied der SA war. Eher ist als Grund zu vermuten, daß er mit seinen kriminalbiologischen Neigungen allein dastand. Er wechselte an die Universität Breslau und habilitierte sich dort mit
Lebensschicksalen krimineller Zwillinge
. Bei seiner statistischen Auswertung stellte er fest, daß bei 63 Prozent seiner eineiigen Probanden und bei 37 Prozent seiner zweieiigen Probanden beide Geschwister straffällig wurden. Und obwohl es ihm nur gelungen war, 128 Probanden für seine Untersuchung zu ermitteln, glaubte er festhalten zu können, daß
sich der stärkste Erbeinfluß geltend macht auf die Häufigkeit krimineller Entgleisungen
. Bereitete man sich so auf die ärztliche Betreuung von psychisch Schwerstkranken, von Schizophrenen, Paranoiden und Depressiven vor?

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