Landgericht
Kranz war Dozent in Breslau geworden, Oberarzt an der Universitätsklinik in Heidelberg und außerplanmäßiger Professor, später Direktor der Heil- und Pflegeanstalt in Wiesloch. Er war der neue Direktor der Universitäts-Nervenklinik in Mainz. 1947 hatte er ein Büchlein mit dem unverfänglichen Titel
Über den Schmerz
veröffentlicht, ja, der Schmerz war eine anthropologische Konstante, und er konnte 1947 Hunger heißen, Vertreibung, Desillusionierung, Verlust von Privilegien. Der Schmerz war kein Gleichmacher, aber das Reden über den abstrakten Begriff täuschte über die verschiedenen Ursachen des konkreten Schmerzes hinweg. Der Schmerz individualisiert, isoliert. Auch die behauptete Abwesenheit von Schmerz ist ein Schmerz, ein Schmerz der Leere, der Öde. In der Zeitschrift „Der Nervenarzt“ hatte Kranz 1949 über die
Zeitbedingte abnorme Erlebnisreaktion
geschrieben. Ja, dem Psychiater erschloß sich ein großes Feld, zeitbedingt. Anfang der fünfziger Jahre war Kranz beim Thema „Irrenrecht, Irrengesetzgebung“, er schrieb einen allgemeinverständlichen Artikel für ein Lexikon der Pädagogik über diese Begriffe.
Einen umständlichen juristischen Apparat
wollte er vermeiden, er würde
das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Kranken zerstören
. Wer 1953 professionell über „Irre“ nachdenkt, muß ein paar Jahre früher über Euthanasie nachgedacht haben, das liegt in der historischen Entwicklung. Und wo war das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Kranken, wenn der junge Arzt zur Beförderung seiner Karriere vor allem an der Begutachtung weiblicher Schamhaare glaubte interessiert sein zu können und nicht an psychischen Befindlichkeiten?
Kornitzer bleibt fünf Tage zuhause, es ist eine leere Zeit, er hat Angst, er werde sterben, er hat Angst, vor lauter Angst zu sterben. Das hat er schon einmal erlebt, als er sich so unendlich aufregte über den Fall Auerbach. Oder über das, was Philipp Auerbach zu einem „Fall“ werden ließ. Er hat den Schmerz im Gedächtnis behalten, die blanke Panik, er glaubte damals an einen Infarkt. Doch jetzt ist er älter und erfahrener, auch dünnhäutiger: also ein Anfall. Die Panik bleibt aus, aber er will sich schonen und auch Claire nicht ängstigen. Worüber hatte der Professor Kranz gesprochen? Der Vortrag hieß „Art. 104 des Grundgesetzes in psychiatrischer Betrachtung.“ Der erste Absatz des Artikels 104 hörte sich sehr vernünftig an:
Die Freiheit der Person kann nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich mißhandelt werden
. Und so ging es milde und verständnisvoll weiter. Die Regelung, wann jemand in Haft genommen werden durfte, war eindeutig. Nein, die Väter und Mütter des Grundgesetzes, von denen einige die Erfahrung der ungerechtfertigten Inhaftierung erlitten hatten, sorgten vor. Sie hatten eng zusammen im Chorherrenstift auf Herrenchiemsee als Verfassungskonvent getagt. Die Wahl war nicht wegen der Schönheit der Insel auf Herrenchiemsee gefallen, sondern weil es nur zwei Telephonanschlüsse gab, der Ausschuß sollte
unbeeinflußt vom amtlichen Getriebe gründliche Arbeit
leisten. Und es war auch nicht das Interesse der jungen Bundesrepublik gewesen, nachdem so viele aus Willkür Inhaftierte entlassen worden, auf die Todesmärsche geschickt worden waren, so viele zu versorgen, wiedereinzugliedern waren, die Gefängnisse von neuem randvoll zu füllen. Aber die Männer in der Untersuchungshaft, die Frauen und Kinder auf der Straße, das Schreien, das Klagen, der ganze Jammer, der Kornitzer häufig in den Ohren gellte, die instinktive theatralische Ausstellung der Unschuldsvermutung – hatte Professor Kranz möglicherweise solche Sorgen der Freiheitsberaubung pathologisiert? Wie der Gerichtspsychiater mit der NS-Vergangenheit Auerbachs Charakter kategorisiert und pathologisiert hatte? Gab es überhaupt einen einzigen Gerichtspsychiater ohne eine solche Vergangenheit?, mußte sich Kornitzer fragen, und er war froh, daß das Zivilgericht kaum einen Bedarf an Gerichtspsychiatern hatte. Hatte der Vortragende den „Berufsverbrecher“, den die Nazis als eine Kategorie Mensch erfunden und erdacht hatten, wieder aufleben lassen? Die Gestalt, die prinzipiell andere und sich hochgradig gefährdet und die deshalb eingesperrt werden muß zum Nutzen der Gemeinschaft? Die Nazis hatten auch Juden als prinzipielle
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