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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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mannhaft vorübergeht, versenkt sich Claire in das Lesen. Sie verbringt eine Zeitlang mit Julien Sorel, diesem kleinen, schwächlichen jugendlichen Helden, dem sein Autor
eine leidenschaftliche Vorstellungskraft
andichtet.
In der Kunst, die Axt zu handhaben (der Vater Sorel hat ein Sägewerk), ist er seinen Brüdern und seinem Vater unterlegen
. Claire kennt eine solche Unterlegenheit nicht, aber sie rührt sie, rührt sie, weil sie aus einer vergangenen Zeit stammt und gleichzeitig so gegenwärtig ist. Julien bereitet sich auf den Priesterstand vor, aber in Wirklichkeit ist er ein Aufrührer, er rührt sich selbst auf, und sein Autor begleitet ihn in einer nüchternen, schlanken Sprache. Und dann erobert dieser Junge die Welt, zuerst eine Provinzdame, dann die Tochter eines Ministers, er ist willensstark, ein Napoleon aus dem Sägewerk, der sich durchbeißt. Aber die Welt, die er erobert hat, entgleitet ihm wieder, seine schöne Provinzliebe attestiert ihm, nur auf Geld und Macht aus zu sein und Frauen nur zu seinen Zwecken auszubeuten. Claire versteht, wie Julien darüber in Zorn gerät (der Autor läßt sie es verstehen). Sie sieht seine Attraktivität förmlich, riecht sie zwischen den Seiten des Buches, und sie erfaßt den kalten Ehrgeiz, mit dem Julien bekundet:
Die Hochmütige liegt mir zu Füßen!
; der Emporkömmling schießt auf seine ehemalige Geliebte, verletzt sie nur leicht, aber er büßt dafür:
Meine Herren, ich habe nicht die Ehre, Ihrer Gesellschaftsklasse anzugehören. Sie sehen in mir einen Bauern, der sich gegen sein niedriges Geschick aufgelehnt hat
. Claire lebt mit dem Glücksräuber, Glücksritter, mit dem Wie-gewonnen-so-zerronnen, sie hat eine so starke Empfindung im Kino noch nicht erlebt, den schrecklichen Glanz der Sprache, und es ist gut, daß sie allein ist in dem Schindelhaus, allein mit dieser Wucht.
    Und dann liest sie den Roman eines Italieners, dessen Namen sie noch nie gehört hat, liest, daß ein Mann eine Frau heiratet, die er nicht wollte, und nicht die, die er begehrte, und dann stellt er fest, daß er diese nun doch liebt, etwas war schiefgegangen. Und dann schreibt er diese sonderbare Geschichte auf, navigiert darin mit einer ironischen Distanz. Sein Psychoanalytiker will sie lesen, selbst hat er nichts davon verstanden, aber aufgeschrieben ergibt sie etwas, das jenseits dieser Geschichte ist: Abgeklärtheit. Einerseits möchte er nur eine letzte Zigarette rauchen, es glücken ihm auch noch Geschäfte, und sein Analytiker sagt, er sei geheilt, eine schöne Seifenblase, der man nachsieht, und so könnte man auch dem eigenen Leben verfallen, denkt Claire und wird ganz sanft, und spätabends schlägt sie noch einmal die Stelle auf, an der Zeno, der Held, sagt:
Es war eine mondlose und sternhelle Nacht, eine jener Nächte, die besänftigen und beruhigen, weil man mit Leichtigkeit in unendliche Fernen sehen kann
. Genau das hatte sie versäumt, sie hatte die unendlichen Fernen aus dem Gesichtskreis verloren, hatte auf Grundstücke gestarrt, auf denen man ein Kino errichten konnte, hatte von roten Vorhängen geträumt, von Schlangen an der Kinokasse, und plötzlich dachte sie, wie es wäre, wenn jene französische Dame aus dem einen Roman den Helden aus dem italienischen Roman, den Schwächling und Träumer, aufwecken würde, wenn ihr Ehrgeiz in ihm pulste. Ob er wirklich krank war, ist nicht zu erfahren, er ist in einer Welt angesiedelt, in der er nicht einmal scheitert, das ist schon etwas.
    Gleichzeitigkeiten, Gleichwertigkeiten. Sie sieht sich selbst auf dem Sofa liegen mit ihren geschwollenen Beinen, matt durch ihre schlechte Nierenfunktion, der Rock ist hochgerutscht, ihre Hausschuhe hat sie abgestreift. Sie sieht sich einen Augenblick lang wie eine Romanfigur, aber es fehlt eine Sprache, es fehlt eine Hand, die sie vom Sofa pflückt und in eine Welt hinausschickt, die staunenswert ist und nicht abweisend. Und ein wenig später fühlt sie sich ermutigt, eine Neuerscheinung zu kaufen, nachdem sie eine Rezension dazu gelesen hat. Das Buch war schon einmal 1928 unter dem Titel „Eine Frau von fünfzig Jahren“ erschienen, aber offenbar wollte niemand das Buch einer Engländerin mit einem solchen Titel lesen. (Auch Claire hätte als Mitzwanzigerin nicht im Traume daran gedacht.) Nun war sie mehr als doppelt so alt, nun war der Roman wieder erschienen mit dem Namen der Heldin, Mrs. Dalloway, als Titel. Auf allem lag der wunderbare Glanz des Unerwarteten, flüchtig war alles,

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