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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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erfüllt sind, nach Ablauf gewisser Zeiträume – unter Hinweis auf den beruflichen Aufstieg anderer Beamter – immer wieder Beförderungsansprüche mit der Begründung geltend machen könnte, daß er ohne die nationalsozialistischen Schädigungsmaßnahmen inzwischen eine höhere Amtsstelle erreicht haben würde
.
    Und dann in einer ruhigen Arbeitspause sieht Kornitzer sich selbst über die Schulter, während er nach dem Telephonbuch greift, ja, er findet den Namen von Professor Heinrich Kranz darin, notiert sich die Adresse, und auf seinem nächsten Weg zum Landgericht fährt er zur Südstadt, läßt das Auto in einer Seitenstraße stehen, steigt aus, betrachtet das stehengebliebene würdige Haus in der Nähe des Rheinufers, in der Nähe der neu gebauten Universitätskliniken. Und er fragt sich gleichzeitig: Was mache ich hier? Studiere ich ein Haus oder eine Wohnsituation, wie sie einem Psychiatrie-Professor, der seine Karriere von 1938 an gradlinig weiterbefördert hat, offensichtlich zusteht? Oder studiere ich meine eigene Unruhe und Unzufriedenheit? Und etwas in ihm will nicht entdeckt werden bei diesem Anstaunen eines Hauses mit roten Sandsteinlaibungen, den zugezogenen Gardinen, dem milden Lampenlicht, und ein anderer Teil von ihm sagt sich: Ich führe eine Ermittlung in eigener Sache. Er spürt sich selbst nicht wirklich, und indem dieser Fall eintritt, an den er nicht gedacht hat, spürt er den Wind, der vom Fluß her weht: Ja, er sieht auch Claires Traurigkeit, an der er einen Anteil hat, aber er kann den Anteil nicht verringern, das beschämt ihn wiederum, und er sieht das Dilemma, „spürt“ es auch, aber wie, wie es mildern? Es ist einfach da, eine Last, ein Betonklotz vor ihren Füßen, zwischen ihnen, durch die Wiederaufbaumaßnahmen noch verfestigt. Es ist unüberwindlich, und es überhaupt nur im Blickwinkel zu behalten, macht es von Tag zu Tag größer, und es macht schuldbewußt. Die Schuld, von der nicht ganz klar ist, worauf sie beruht (später hätte man sie Überlebensschuld genannt), breitet sich aus wie ein Fettfleck.
    Manchmal trat er spätabends in die Tür von Georges oder Selmas Zimmer, stellte sich den Sohn, die Tochter an einem Tischlein am Fenster vor, für ihr Studium arbeitend, ihm den Rücken zukehrend, mit rauchendem Kopf, nur beiläufig über die Schulter sehend. Ah, du bist es, Vater, und dann wieder auf die Arbeit konzentriert, die Kornitzer nicht wirklich begreift (aber das tut nichts zur Sache), und er träte dann leise, leise zurück, befriedigt. Sein Sohn, seine Tochter unter seinem Dach: eine Art von Entwicklungsroman, etwas Außerordentliches, das keinen Namen hatte, aber doch eine Richtung. Er sah vergangene Handgriffe, hörte ferne Schritte. Und dann fand er wieder in die Wirklichkeit zurück, das Tagträumen war ein Zeitaufschub, er stieg die Treppe hinunter und setzte sich Claire gegenüber in den Sessel, als wäre nichts geschehen.
    Ja, Kornitzer geht zu wenig, bewegt die Akten, aber nicht seinen Körper, er wird stark. Claire serviert häufig Forelle Müllerin, Kornitzer träufelt sich viel flüssige Butter über den mageren Fisch, sonst schmeckt er ihm nicht. In Havanna hatte es überhaupt keine Butter und kaum andere Milchprodukte gegeben. Und Claire möchte sich mit ihm nicht über den Butterund Sahnekonsum auseinandersetzen. In seiner Personalakte finden sich in dieser Zeit die Einträge:
Dr. Kornitzer fühlt sich in seiner Eigenschaft als rassisch Verfolgter zurückgesetzt; zwischen ihm und seinen Kollegen haben zeitweise Spannungen bestanden, bei denen vielleicht persönliche Empfindlichkeit eine Rolle spielt
. Und:
Der Gesundheitszustand des Richters, der etwas massig wirkt, war in letzter Zeit mehrfach gestört
. Hatte das Justizministerium seinem Vorgesetzten, dem Landgerichtspräsidenten, seinen Antrag weitergereicht und um Stellungnahme gebeten? Vermutlich.
    Gegen diese Formulierung protestiert Kornitzer, er verlangt Tilgung, die nicht gewährt wird. So bleibt die Formulierung für spätere Leser seiner Personalakte sichtbar, überaus gut sichtbar, sie übt eine Signalwirkung aus. Warum steht etwas über seinen Leibesumfang in seiner Akte? Wen geht das etwas an? Sind solche Eintragungen in einer Personalakte überhaupt erlaubt? Vermutlich nicht. Nein, gewiß nicht. Er erreicht nicht nur keine Tilgung, ihn erreicht ein Schreiben des Justizministeriums. Ministerialrat Dr. Schönrich erklärt Kornitzer, warum seiner Eingabe nicht stattgegeben wird, und es

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