Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
Vom Netzwerk:
was an dem einzigen Tag geschieht, den der Roman ausleuchtet: der Kauf der Blumen für die abendliche Party, der Schlag des Big Ben, der Ärger über das Mittagessen, das ihr Mann absagt, das unerwartete Treffen mit einem Jugendfreund, Hutläden, Kleiderläden, Läden mit Taschen in den Schaufenstern, auch die Nachricht vom Selbstmord eines jungen Mannes,
es war etwas Gelassenes in ihrem Benehmen
, befindet der Freund über die Frau im Mittelpunkt. Alles ist gleichwertig, strömt und verströmt, die Perspektiven lösen sich auf. Es schwindelt Claire ein wenig bei der Lektüre, sie ist bei sich und gleichzeitig weit weg in London, wie sie kürzlich noch in Triest war und davor in der französischen Provinz, und sie ist in Mainz-Mombach, in ihrem Wohnzimmer. Und sie stellt sich ihren Mann vor am Bodensee, man müßte ihn beschreiben, wie er von weither kommt, zu ihr gekommen ist, aber dann weiß sie nicht weiter und klappt das Buch zu. Morgen wird sie wieder lesen.
    Kornitzer kommt zurück, er ist schlanker geworden, aber es geht ihm nicht eigentlich gut. Der Abstand zwischen dem Landgericht und dem Bodensee hat ihm gut getan. Er sucht seinen Hausarzt auf, der untersucht ihn und schreibt ein Attest:
Herr Landgerichtsdirektor Dr. Kornitzer hat im Sanatorium Buchinger in Überlingen eine anstrengende vierwöchige Fastenkur zur Entschlackung mitgemacht. Um einen vollen Enderfolg zu erzielen, ist noch ein vierwöchiger Urlaub aus ärztlichen Gründen dringend erforderlich. Herr Dr. Kornitzer ist alsdann wieder voll dienstfähig
. Gab es Unmut, ein Augenbrauenhochziehen, als er das Attest vorlegte? Welcher Prozeß mußte ausgesetzt werden wegen seiner Abwesenheit? Einen Tag später schreibt der Hausarzt eine zweite Mitteilung:
Im Anschluß an mein Attest bescheinige ich, daß Herr LG. Dir. Dr. Kornitzer infolge der anstrengenden Kur und Aufregungen für weitere vier Wochen dienstunfähig ist
. Eine verschärfte Gangart, eine heftige Reaktion. Nein, es geht Kornitzer nicht gut.

Die Tat
    Ja, Kornitzer hatte es sich genau überlegt. Er war kein Spieler, auch kein Utopist. Die Würde des Richteramtes und der Eid, den er bei seiner Ernennung geschworen hatte,
Gehorsam der Verfassung, den Gesetzen und meinen Vorgesetzten und die Treue meinem Volk, Achtung gegenüber dem Willen der Volksvertretung
, all das band ihn. Aber auch das Hervortreten des Eigentümlichen sah er, sah es klar vor sich, ohne es benennen zu können, und er sah auch, was zu tun sei. Es war keine Tat im Sinne einer Heldentat, es war ziemlich leicht, dachte er. (Als ließe er einen Luftballon im Sitzungssaal schweben, dem alle Anwesenden träumerisch nachblickten, einen Luftballon mit schönen Wertvorstellungen, die an Paragraphen wie Fundkärtchen geknüpft waren und schon irgendwo landen sollten. Oder einschlagen wie Meteoriten.) Aber er wollte vorausschauend handeln, und das beschwingte ihn auch. Es war der erste Tag der neuen Sitzungsperiode nach den Gerichtsferien, ein blauer Morgen im September 1956, sehr früh noch, schon kühl, erste Herbstblätter nach dem heißen Sommer im Rinnstein, sich bläulich färbende Holunderbeeren in den Büschen am Straßengraben. Kornitzer hatte schon von zu Hause aus ins Gericht telephoniert und einige Anordnungen getroffen, er winkte seiner Frau an einem Fenster im ersten Stock zu, Claire winkte mit einem übermäßig fuchtelnden Arm zurück, viel Aufwand für einen ganz normalen Aufbruch, als er das Haus verließ. Ja, er fuhr mit dem noch ziemlich neuen Auto hinunter in die Innenstadt, parkte den Wagen in der Nähe des Flusses, und als er im Landgericht ankam, nahm er die Stufen der Treppe, ohne zu zögern, auch ohne Anstrengung, die Füße paßten sich an, die Knie, der ganze Bewegungsapparat, er beherrschte den Weg, und er beherrschte sich. Ins Landgericht zu gehen, war ein Automatismus geworden. Er begab sich in das Beratungszimmer, einen schmucklosen Raum, dessen Fenster hinüber zum Untersuchungsgefängnis wiesen. Dort an den Zellenfenstern tauchten häufig die Köpfe der Gefangenen auf, diese Demonstration wurde nicht gerne gesehen, weder im Gericht noch im Gefängnis; andererseits konnte man einem in Untersuchungshaft geratenen Menschen den sehnsüchtigen Blick hinaus aus dem Fenster nicht verbieten. Draußen und drinnen vermischten sich in diesem Blick. Es war ein symbolisches Aufreißen der Fenster, das mit einem einzigen Blick eingefangen, umfangen wurde. Im Beratungszimmer saßen einige Referendare und

Weitere Kostenlose Bücher