Landgericht
sich das Mädchen auch im nächsten Jahr noch um den breitbeinig wie ein Seemann herumschwankenden Georg, der ein dickes Windelpaket trug, aber die Beinchen so heftig einknickte und wieder streckte, als wäre das ein eindeutiges Zeichen, daß er unbedingt etwas Aufgerichtetes, stolz auf den Hinterbeinen Balancierendes werden wollte, ohne die Beschwernis zwischen seinen Beinen. Sein Aufrichten war ein Akt, als wäre es ein historisches Ereignis, wenn er endlich seine Windeln, über die das schlesische Mädchen sorgsam wachte, abstreifen könnte: eine Schmetterlingslarve. Und vielleicht war es das auch auf einer abstrakten Ebene. Georg war das erste Neugeborene im Woga-Komplex gewesen, im Flur entdeckten Claire und Richard Kornitzer jedenfalls so bald keinen neuen hochrädrigen Kinderwagen, die anderen jungen Mieterinnen waren schlank, rannten los in die Büros, es war keine Zeit, ein familiäres Glück auszustellen oder zu propagieren. Das Vitale war verborgen, untergründig arbeitete es vielleicht, es war zurück in die Körperhöhlen gewandert.
Häufig schlüpfte Claire abends, kurz vor der Abendessenszeit aus dem Haus, betrat das Kino durch den Hintereingang, der sich gleich neben ihrer Haustür befand. Sie vermied das Foyer mit seinen vielen erwartungsvollen Zuschauern, zu denen sie nun einmal nicht gehörte: Sie war vom Fach, das hatte sie gleich klargestellt, als sie in den Woga-Komplex gezogen war und erste Kontakte zum Kino Universum knüpfte. Sie durfte das, hineinschlüpfen und wieder hinaus, ganz vorbehaltlos, sie kam kurz, sehr knapp vor der Vorstellung, stand mit verschränkten Armen ganz hinten in einem Gang. Sie sah entspannt aus, nicht wie eine professionelle Kontrolleurin, eine Erbsenzählerin des Publikums. Wie sich die Menge des Publikums zu der Menge von möglichen Käufern eines Produkts, für das im Vorfilm geworben wurde, verhalten könnte, das wußte kein Mensch, man mußte es erfühlen, erahnen aus der Temperatur des Raums, aus den Lachern, aus der Unruhe, dem Rascheln, Husten oder aus der überraschenden, aber ganz unfeierlichen Stille. Mit anderen Worten: Das, was Claire Kornitzer betrat, kurz vor Beginn der Vorstellung, war vermintes, unwägbares Gelände, man mußte tasten, sich aussetzen, Erfahrungen machen, sehen, wie sich diese Erfahrungen mit anderen vergleichen ließen. Sie war allein, sie war eine Pionierin, während die Zuschauer sich auf den Kinoabend freuten, bereit waren, in eine abgeschlossene Welt zu tauchten, ganz ohne Mißtrauen. Sie waren auch bereit, sich Spaß, Schmerz, Begeisterung hinzugeben, wie die Stimmungslage des Kinoabends es ihnen nahelegte. Claire Kornitzer dagegen beobachtete die Zuschauer mit nüchternem Blick, horchte in die Menge hinein. Der Film spulte. Oder wurde die Rolle aufgespult, während der Projektor raste und röhrte in der abgedichteten Kabine des Filmvorführers? Das Bild kapierte man mühelos. Es prägte sich ein, und genau das war seine Überlegenheit. Das Bild war da, das blendende Weiß eines Bettlakens, mit dem richtigen Waschpulver gewaschen, das glänzende, satt gewichste Leder eines Schuhs, das war eindeutig, unzweifelhaft (so schien es), das Produkt mußte nicht mehr marktschreierisch angepriesen werden. Etwas war offenbar, schlüssig, die Bilder offenbarten eine Welt, die sich selbst wortlos erklärte und schön war. (Bei der Wochenschau, nun ja, da war es wieder anders.) Bei Wörtern stellte sich jeder vor, was er wollte, was er konnte. Gar nichts konnte sich der Zuschauer manchmal vorstellen, er lieferte sich aus, er entblößte sich.
Sie „testete“ das Publikum, ohne einen Begriff davon zu haben, es war eine rein instinktive Handlungsweise. Man mußte sehen, ob das Hören, der Tonfilm, der machtvoll anbrandete an die Kinoleinwände, nicht auch die Werbung, für die Claire mit ihrer Firma Prowerb verantwortlich war, an den Rand drückte und sie am Ende des Kinoerlebnisses in Vergessenheit geraten war. Sie kam ins Universum und konnte die Eleganz, die sie von Beginn an so stark empfunden hatte, nicht mehr genießen, sie war hellhörig, aufs Äußerste angespannt, und ließ es nicht zu, daß man dies merkte. Sie arbeitete im Wirbel der Montagen, im raschen Helldunkel der Leinwand, während sie dastand im Gang. Wenn Claire im Kino darüber nachdachte, daß sie gerne die Zuschauer befragen wollte, warum sie hier sitzen, heute und nicht morgen und nicht gestern, warum sie sich für dieses Kino entschieden haben und für diesen Film, so
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