Landgericht
verlor sie manchmal, mit der Strömung driftend, aus dem Sinn, welche Kinowerbung denn mit welchem Film zusammentraf. Auch das mußte besser oder überhaupt erst koordiniert werden. Gewiß würde die Leitung des Universum eine solche Befragung nicht dulden, die Zuschauer kamen, um sich zu entspannen und nicht, um als Versuchskaninchen, was sie von den flimmernden Bildern behalten hatten und was nicht, benutzt zu werden. Im Kino betrachteten sie die Zeit, und man mußte sehr, sehr vorsichtig sein, um sich selbst nicht wirtschaftlich das Genick zu brechen, wenn man sich mit dem neuen Medium eingelassen hatte. Immerhin saßen Tag für Tag 200.000 Menschen allein in Berlin im Kino, das machte die unvorstellbare Summe von 60 Millionen Kinobesuchern im Jahr aus, das Kinopublikum war weit größer und sein Einfluß stärker als der jeder anderen Gattung von Kunst und Unterhaltung.
Was konnte Claire Kornitzers Firma Prowerb diesem riesigen Publikum bieten? Oder besser: Wozu konnte sie es verführen? Oder noch besser: War es überhaupt verführbar, oder sah und merkte es sich nur die Werbung für Produkte, die es schon kannte? Schuhcreme, Haaröl, Shampoo, Waschmittel, Duftwasser. War es zu schönen, überteuerten Autos mit kühnen Schnauzen verführbar? Zu Bausparkassen, die mittels netter Haustypen in den grünen Vororten von Berlin warben, in Schmargendorf, in Frohnau, in Lichterfelde West. All das waren praktische und schöne, zartfühlende Immobilien im Grünen für Leute, die sich nicht so sehr für das Aktuelle und seine Abgründe interessierten. Die Kornitzers waren da anders, nah am Ku’damm hörten sie die Ausrufer der Abendzeitung – die Morgenzeitung hatten sie ohnehin gelesen –, die Zeitungen waren nicht wirkliche Werbeträger, die Zeitungen generierten keine Wünsche und Begehrlichkeiten, sie waren zu nüchtern (bilderlos).
Am besten (oder am risikolosesten) warb man im Kino für Produkte, die jeder Mann und besonders jede Frau brauchte oder brauchen sollte. Claire machte sich Notizen; die Notizen abzuarbeiten und gleichzeitig neue Werbefilme zu starten, erforderte viel Arbeit. Arbeit, die man gar nicht immer sah, anders als die Akten eines Juristen, die er mit nach Hause brachte, weil er seine Arbeitszeit vorwiegend selbst bestimmen konnte. Und Claire, die Termine hatte noch und noch, war ganz froh über diese Besonderheit. Es waren unternehmerische Entscheidungen zu treffen, die ihr niemand abnehmen konnte. Manchmal schwindelte ihr ein wenig bei der Tragweite.
Gleichzeitig dachte sie an ihren kleinen Jungen, der ins Bett gebracht wurde um diese Zeit, während sie im Universum stand – zur Verwunderung der Platzanweiserinnen. Sie hatte keine Kinokarte, brauchte sie nicht, und sie brauchte auch die Hilfe der Platzanweiserinnen nicht (oder das energische Eingreifen, wenn jemand sich in der Sitzreihe irrte). Ihr Platz war an der Mahagoni-Täfelung hinten im Gang, mit den Händen stützte sie sich ab. Sie dachte an ihren Mann, und sie sah, ohne wirklich zu denken, oder sie dachte, auf die große Leinwand schauend, eine offene Wahrnehmung mit allen Sinnen, derer sie sich nicht wirklich bewußt war. Bewußt war ihr die äußerste Konzentration. Ihr Arbeiten war aktiv und passiv zugleich, sie ließ die Atmosphäre auf sich wirken und zog daraus Schlüsse. Ob diese richtig waren oder falsch, konnte sie nicht überprüfen. In Wirklichkeit war sie die wahre Testperson, die sich der Gemeinschaft des Publikums aussetzte. Zuschauer wunderten sich, daß sie sich nicht setzte, wenn es dunkel wurde. Sie wunderte sich nicht, daß man sich wunderte über sie, sie ahnte: Sie wirkte wie eine Art von Kommissarin, Statthalterin (aber für was?), und diese Rolle war danach schwer abzustreifen.
Wieder schlüpfte sie durch den Hintereingang des Universum, kam nach Hause mit der gerade beförderten Gewißheit: Ja, so ist es gut, genau so. Oder dem Zweifel: Hätte man die Unsicherheit über eine wirbelnde Kameraführung nicht beseitigen können? Hätte die Ankündigungsstimme für das beworbene Produkt nicht schmiegsamer sein können? Sie hatte eine letzte Abnahme des Werbefilms versäumt, das warf sie sich vor. Aber sie warf sich auch vor, sie habe nicht darauf geachtet, daß Georg nicht nur nieste, sondern auch schnupfte und am späten Abend, als sie noch einmal nach ihm sah, wirklich hohes Fieber hatte und daß das Mädchen die Krankheit ignoriert oder wirklich nicht begriffen hatte. So weckte Claire ihren Mann, der morgen
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