Landleben
Westen. Ich habe ihnen zu erklären ver-
sucht, dass die Mathematik keine nützliche Arbeit verrich-
tet, sondern nur unnütze. Was allerdings nicht ganz stimmt:
Physik und Technologie hängen von der Infinitesimalrech-
nung ab. Und von der Mengenlehre.»
«Verstehst du denn», fragte er – und eine solche Frage
musste eine intimere Umgebung verlangt haben als eine
Ecke, und sei es eine dämmerig beleuchtete Ecke in der
Besucherhalle in dem Haus 120 Bay State Road; vielleicht
war es in ihrem Zimmer in Bexley Hill gewesen, gegen die
Hausregeln, an einem Wochenende, wenn ihre Mitbewoh-
nerin, Sally Fazio aus Providence, zu Hause in Rhodes Is-
land war oder zum k
S ifa r
h en in New Hampshire – «Men-
genlehre? Ich meine, warum ist sie so wunderschön?»
«Ich glaube schon. Sie ist wunderschön, so elementar
und originell. Du weißt, dass sie die Erfindung eines ein-
zelnen Mannes ist. Newton und Leibniz haben die Infi-
nitesimalrechnung
unabhängig
voneinander
erfunden,
und Lobatschewskij und Bolyai haben das Gleiche für die
nichteuklidische Geometrie getan, und hätten sie es nicht
getan, dann hätte es Gauss getan – sie wartete nur darauf,
gefunden zu werden –, aber ohne Cantor wäre die Men-
genlehre vielleicht nie entstanden. Hubert hat einmal ge-
sagt, niemand wird uns je aus dem Paradies vertreiben, das
Cantor geschaffen hat. Ist das nicht schön? Ein Paradies
zu erschaffen, aus dem niemand vertrieben werden kann?»
Wenn Phyllis über Mathematik sprach, wurde sie lebhafter
und präziser – sprach schneller, und ihre Gesten waren aus-
holender und unvorsichtiger. Das Blut strömte schneller
unter ihrer dünnen hellen Haut.
«Ja, stimmt», musste er zugeben.
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«Und ganz viel davon hat er in einer Irrenanstalt ge-
macht. Sein Verstand war verwirrt – die Mengenlehre war
zu mächtig.»
«Was mein Verstand nicht richtig begreift», sagte Owen
beharrlich, indem er sich in Cantors Rang mentaler Fra-
güität erhob, «ist: Warum war es so eine große Sache, als
Russell und Gödel diese internen Widersprüche oder Para-
doxien entdeckten? Klein behauptet doch, dass die Verwir-
rung im Wesentlichen semantischer Art sei. Ich verstehe
nicht, was Unentscheidbarkeit mit der Geschichte des
Computers zu tun hat.»
«Wirklich nicht?», sagte Phyllis und konnte ihre Überra-
schung und Enttäuschung nicht ganz verbergen, als hätte
die Klarheit ihres eigenen Denkens sich auf Owen über-
tragen müssen, dank ihres königlichen Akts, ihn als ihren
Freund zu akzeptieren. Die beiden trafen sich vor den
Vorlesungen und kamen hinterher wieder zusammen; sie
tranken vormittags zusammen Kaffee und saßen bei einem
ausgedehnten späten Mittagsimbiss im Student Center,
auf der anderen Seite der Massachusetts Avenue; sie gin-
gen zusammen ins Kino am Harvard Square, oder in der Wa-
shington Street in Boston; der süffisante Jake und der be-
drohliche Ralph waren an den Rand des Kreises verbannt,
in dessen ruhigerem Zentrum sich Owen jetzt fand. Und
weil sie nicht länger als vier Stunden voneinander getrennt
sein konnten, trafen sie sich abends wieder und saßen zwi-
schen beschlagenen Spiegeln in den verräucherten kleinen
Restaurants, wo
e
Student n bei überhitzten Symposien zu-
sammenhockten.
«Ich meine», sagte er, auf seiner Uneinsichtigkeit behar-
rend, sie ihr aufdrängend, «was wäre, wenn ein System der
Systeme existierte, die nicht Teile ihrer selbst sind, was es
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zu einem System machte, das sowohl Teil s
e
ein r selbst und
nicht Teil seiner selbst ist?»
«Aber, Owen, mein Lieber», sagte Phyllis, «die Antino-
mien – oder Paradoxien – unterlaufen die klassische Logik,
doch die Art, wie sie ausgedrückt werden müssen, führt
zur symbolischen Logik, die uns zur Booleschen Algebra
und zu der Turing-Maschine und den Algorithmen hin-
führt. Unentscheidbarkeit ist so, als wüsstest du, du hast
ein Sumpfgebiet und musst Methoden erfinden, wie du
trotzdem darauf bauen kannst. Es ist so wie die Back Bay
auf all ihren Pfählen», sagte sie und hatte solche Freude an
ihrer Analogie, dass ihr Gesicht einen Moment lang mehr
das eines Vogels als das eines Muffins war.
Phyllis bewohnte ein schmales Reich, und er sehnte
sich danach, ihr dort nahe zu sein. Schon ihr Ausdruck der
Geistesabwesenheit richtete ihn auf, führte ihn weiter.
Manchmal glaubte er zu spüren, dass die von der Strenge
der postaristotelischen Logik an den
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