Landleben
Wurzeln der Arithme-
tik entdeckte Leere auch in ihr existierte – die Weigerung,
eindeutig zu sein, ein unerbittliches Leugnen unter der
scheuen, willfährigen Oberfläche. «Du weißt, dass ich dich
noch nicht liebe», sagte sie, nachdem sie ein Jahr mitein-
ander gegangen waren und von ihren Freunden längst als
Paar betrachtet wurden.
Owen war schockiert, insbesondere, da sie ausgestreckt
beieinander lagen, irgendwo, auf einem Bett, einem Fuß-
boden – es musste in Phyllis’ letztem Studienjahr gewesen
sein, als sie wieder zu ihren Eltern gezogen war, wo sie mit-
einander allein und ungestört sein konnten. Zwar streiften
sie nicht ihre heißen Kleider ab, aber sie «machten es»,
in jenen gehemmten, verhüllten Zeiten. Owen hatte an-
genommen, dass er liebenswert sei, wenn auch nicht der
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Beachtung der Ginger Bittings dieser Welt würdig. Seine
Mutter und Elsie hatten ihn geliebt.
Er verriet keine Reaktion, drückte Phyllis nur enger an
sich und sagte: «Wirklich nicht? Ich liebe dich aber. Viel-
leicht liebst du mich, und du weißt es nur noch nicht.»
Gleichzeitig spürte er, wie sein Körper wegdriftete, weg-
gespült wurde von dem Gedanken, dass er vielleicht den
Fluss seines Lebens doch nicht durch diesen anderen,
fremden Körper leiten sollte.
«Vielleicht», sagte Phyllis unbestimmt, und ihre Stimme
war belegt von Bedauern darüber, dass sie zu viel preis-
gegeben hatte. Ihr Gesicht war wenige Zentimeter von
seinem entfernt, in den Schatten des Zimmers, das, wie
es ihm in der Erinnerung an diesen Moment erschien, in
einem oberen Stockwerk gewesen war, vielleicht das Zim-
mer ihres Bruders im Haus ihrer Eltern. Er hatte sie ge-
küsst, diese lippenstiftlosen, tauben Lippen, als wollte er
Blut in sie hineinpressen, während einzelne Strähnen ihres
unordentlichen Haars sein Gesicht kitzelten, mit der irri-
tierenden, insistierenden Leichtigkeit von Fliegenbeinen
an einem schwülen ‘lag. Manchmal schien es so, als wäre
sie diejenige, die gekitzelt wurde, denn mehr als einmal,
wenn ein jäher Ausbruch von Liebe ihn dazu trieb, sie mit
einem Schauer von Küssen zu überschütten, ihre Lippen
und ihre hohen, errötenden Wangenknochen und ihre
farblosen Augenbrauen und ihre Lider mit dem unruhig
zuckenden Puls – diese ganze wunderbare Präzision einer
Silberstiftzeichnung-, dann lachte sie laut auf, was verwir-
rend, ernüchternd war. Er deutete diese Momente als Zu-
rückweisung seiner ungeschickten voreiligen Vorstöße ge-
gen die feinen Barrieren, die sie in einundzwanzig Jahren,
in denen sie so zart, so allein gewesen war, errichtet hatte.
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Er versuchte sich vorzustellen, welche Regung in ihr, wel-
che winzige klimatische Veränderung sie davon überzeugen
würde, dass sie ihn liebte. In Augenblicken ihrer jungen
Liebe, die ihm wie Erhellungen ihres verborgenen inne-
ren Lebens erschienen, war ihr entschlüpft, dass sie und
ein anderes Mädchen an der Buckingham School manch-
mal Hand in Hand gegangen waren und dass der unsäg-
liche Freund, den ihre Eltern beide übereinstimmend als
ungeeignet betrachtet hatten, «enorm» gewesen sei – und
in Erinnerung an das Ausmaß flogen ihre Hände auseinan-
der. Er war ein typischer Sommercamp-Mensch gewesen
und hatte für sie vielleicht die mythische Statur der Berge
angenommen, der hohen rau gerindeten Kiefern, der fer-
nen Granitbrocken, der Gewitterwolken an einem stillen
Sommertag mit ihrem weißen Gleißen über den dunklen
immergrünen Bergkämmen. Hank – sein Name, den sie
sich entschlüpfen ließ – war in dem Sommerlager Leiter
des Reparaturdienstes gewesen, Kapitän des zerbeulten
Pick-up-Wagens, Meister des Müllplatzes und der mit Kie-
fernnadeln bedeckten Fahrwege, und obwohl er ein paar
Semester an der University of New Hampshire studiert
hatte, bekundete er keine Ambitionen außer der, immer in
der Natur zu arbeiten, zu hacken und zu holzen und Mü-
cken und Bremsen mit DDT zu besprühen. Sein Mangel
an Ehrgeiz war auch der Grund dafür, dass er keinen An-
spruch auf sie erhob, obwohl sie sich mehrere Sommer lang
gekannt hatten. Vielleicht hatte eher sie ihn umworben,
hatte sich scheu an ihn herangemacht, so wie Owen für
Buddy Rourke das Monopoly-Spielbrett vorbereitet hatte.
Wenn Phyllis an Hank dachte, verlor ihr Gesicht seinen
abwesenden Ausdruck, seine Trägheit, und stählte sich ir-
gendwie, obwohl sie ihre Gefühle hinter einem
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