Landleben
Eltern
ein paarmal begegnet. Ihr Haus stand in einer schattigen
Straße in Cambridge, die früher, bevor der Feierabend-
verkehr sie als Abkürzung zwischen Garden Street und
Massachusetts Avenue entdeckt hatte, zweifellos ruhiger
gewesen war. Es war ein typisches Haus, groß auf einem
kleinen Grundstück, mit einer beängstigenden Menge
von Büchern überall, in Regalen, die sogar die Treppe hin-
aufkletterten und noch den Flur im zweiten Obergeschoss
füllten. Bis vor fünf Jahren waren die Zimmer in diesem
Stockwerk an Harvard-Studenten vermietet worden, doch
als Phyllis heranwuchs, war ihren Eltern das Eindringen
junger Männer ins Haus unbehaglich geworden. Ehe ihr
jüngerer Bruder Colin nach Andover ging, hatte er eines
der zuvor vermieteten Zimmer als seine Höhle in Be-
sitz genommen und die Matratze, den Sekretär und den
Schreibtisch aus hellet Eiche, die schon vorhanden waren,
um eigene Sachen ergänzt: sein kleines weißes Plastikra-
dio, einen 45er Plattenspieler, ein paar selbst zusammen-
geklebte Modelle einer veralteten Kriegsmaschinerie, ein
paar verstreut herumliegende, muffig riechende Sweat-
shirts und Basketballschuhe und, in ein paar Bücherrega-
len aus unbearbeitetem Kiefernholz, ein Sammelsurium
von Batman- und Plastic-Man-Comics, Sciencefiction-
Zeitschriften, Taschenbüchern mit Baseball-Statistiken, Shady-Hill-Schulbüchern und ein fünfzehnbändiges Kin-
derlexikon, dessen Einbandrücken den Regenbogen von
Violett bis Rot durchliefen, die aber irritierend bunt durch-
einander standen. Owens Mutter hatte ein paar Bücher be-
sessen und andere in der Öffentlichen Bücherei in Alton
ausgeliehen, wohin sie von Willow mit der Straßenbahn
gefahren war; in diesem Haus waren Bücher ein wuchern-
des Gewächs, ein Pilzgeflecht von Lesestoff, das krustig
jede Oberfläche überzog.
Phyllis war größer als ihre Eltern. Ihr Anblick, wie sie
errötend beide überragte und dabei den Kopf schief hielt,
als wäre sie am liebsten geschrumpft, wirkte auf Owen
erotisch. Sie war schlank, hatte aber volle Brüste, und im
Nacken und an ihren feuchten Stellen wuchs ihr üppiges
schmutzig blondes Haar – ein hormonell großzügig ausge-
statteter Körper, der diesen beiden zierlichen, trockenen
Menschen entsprungen war. Ihre Körper waren, so schien
es, das Letzte, woran die Eltern Goodhues dachten. Sie
kleideten sich, fast austauschbar, in Schichten mausgrau-
er Wolle. Mrs. Goodhue, die mit Vornamen Carolyn hieß,
trug gerade Röcke aus genopptem Stoff, flache braune
Schuhe und nicht zugeknöpfte Strickjacken, von denen
die eine Seite immer auffällig tiefer hing als die andere.
Die verwaschenen Farben und ihr abwesender Ausdruck
verbanden sie mit ihrer Tochter, aber bei ihr kam eine
Ungeduld dazu, die Angewohnheit, Äußerungen anderer,
die für ihr Gefühl zu langsam kamen oder zu offenkundig
waren, zu unterbrechen, die von der sanft sprechenden
Phyllis nicht geteilt wurde. «Dieses Haus –», sagte Owen,
als er sich bei seinem ersten Besuch umsah, staunend über
den Reichtum an lackierten Holzarbeiten, Knäufen und
Schmuckleisten, über die stattlichen Doppeltüren, das walnussbraune Treppenhaus, das sich kraftvoll zum Absatz
emporschwang, wo hohe Bleiglasfenster farbige Schatten
warfen.
«– enthält zu viele Bücher, ich weiß. Das sage ich Eus-
tace auch dauernd, aber er sagt, sie seien seine Werkzeuge
und er wisse nie, welches er als nächstes brauche. Ein Buch
kann unberührt zwanzig Jahre warten, und plötzlich, mit-
ten in der Arbeit an einem langweiligen wissenschaftlichen
Aufsatz, braucht er es ganz dringend. Es ist schrecklich –
denken Sie an die Staubmilben. Ich versuche, die Putz-
frauen dazu zu bekommen, dass sie einmal im Jahr alles
abstauben, und statt dessen kündigen sie.»
«Sie fürchten sich, Mutter», sagte ihre Tochter leise da-
zwischen und warfeinen entschuldigenden Blick in Owens
Richtung.
Doch sie brauchte sich nicht zu entschuldigen. Alle El-
tern sind ihren Kindern peinlich. Seine eigenen Eltern wa-
ren Owen unglaublich traurig vorgekommen, wie sie allen
in der Mifflin Avenue eine zänkische Show ihrer Unzufrie-
denheit und ihres gestörten Verhaltens boten. Im Vergleich
dazu waren Phyllis’ Eltern, wie es schien, mustergültige
Einwohner von Cambridge, so zuverlässig im Einhalten ih-
rer Spielregeln wie die kleinen, miteinander verbundenen
Eiguren, die zur vollen Stunde aus einer Schweizer Uhr
hervorgewackelt kamen. Owen mochte die flinke kleine
Dame des
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