Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Landleben

Landleben

Titel: Landleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
Vom Netzwerk:
geschaffen hat. Ist das nicht schön? Ein Paradies
zu erschaffen, aus dem niemand vertrieben werden kann?»
Wenn Phyllis über Mathematik sprach, wurde sie lebhafter
und präziser – sprach schneller, und ihre Gesten waren aus-
holender und unvorsichtiger. Das Blut strömte schneller
unter ihrer dünnen hellen Haut.
    «Ja, stimmt», musste er zugeben.
    «Und ganz viel davon hat er in einer Irrenanstalt ge-
macht. Sein Verstand war verwirrt – die Mengenlehre war
zu mächtig.»
    «Was mein Verstand nicht richtig begreift», sagte Owen
beharrlich, indem er sich in Cantors Rang mentaler Fra-
güität erhob, «ist: Warum war es so eine große Sache, als
Russell und Gödel diese internen Widersprüche oder Para-
doxien entdeckten? Klein behauptet doch, dass die Verwir-
rung im Wesentlichen semantischer Art sei. Ich verstehe
nicht, was Unentscheidbarkeit mit der Geschichte des
Computers zu tun hat.»
    «Wirklich nicht?», sagte Phyllis und konnte ihre Überra-
schung und Enttäuschung nicht ganz verbergen, als hätte
die Klarheit ihres eigenen Denkens sich auf Owen über-
tragen müssen, dank ihres königlichen Akts, ihn als ihren
Freund zu akzeptieren. Die beiden trafen sich vor den
Vorlesungen und kamen hinterher wieder zusammen; sie
tranken vormittags zusammen Kaffee und saßen bei einem
ausgedehnten späten Mittagsimbiss im Student Center,
auf der anderen Seite der Massachusetts Avenue; sie gin-
gen zusammen ins Kino am Harvard Square, oder in der Wa-
shington Street in Boston; der süffisante Jake und der be-
drohliche Ralph waren an den Rand des Kreises verbannt,
in dessen ruhigerem Zentrum sich Owen jetzt fand. Und
weil sie nicht länger als vier Stunden voneinander getrennt
sein konnten, trafen sie sich abends wieder und saßen zwi-
schen beschlagenen Spiegeln in den verräucherten kleinen
Restaurants, wo Studenten bei überhitzten Symposien zu-
sammenhockten.
    «Ich meine», sagte er, auf seiner Uneinsichtigkeit behar-
rend, sie ihr aufdrängend, «was wäre, wenn ein System der
Systeme existierte, die nicht Teile ihrer selbst sind, was es             zu einem System machte, das sowohl Teil seiner selbst und
nicht Teil seiner selbst ist?»
    «Aber, Owen, mein Lieber», sagte Phyllis, «die Antino-
mien – oder Paradoxien – unterlaufen die klassische Logik,
doch die Art, wie sie ausgedrückt werden müssen, führt
zur symbolischen Logik, die uns zur Booleschen Algebra
und zu der Turing-Maschine und den Algorithmen hin-
führt. Unentscheidbarkeit ist so, als wüsstest du, du hast
ein Sumpfgebiet und musst Methoden erfinden, wie du
trotzdem darauf bauen kannst. Es ist so wie die Back Bay
auf all ihren Pfählen», sagte sie und hatte solche Freude an
ihrer Analogie, dass ihr Gesicht einen Moment lang mehr
das eines Vogels als das eines Muffins war.
    Phyllis bewohnte ein schmales Reich, und er sehnte
sich danach, ihr dort nahe zu sein. Schon ihr Ausdruck der
Geistesabwesenheit richtete ihn auf, führte ihn weiter.
Manchmal glaubte er zu spüren, dass die von der Strenge
der postaristotelischen Logik an den Wurzeln der Arithme-
tik entdeckte Leere auch in ihr existierte – die Weigerung,
eindeutig zu sein, ein unerbittliches Leugnen unter der
scheuen, willfährigen Oberfläche. «Du weißt, dass ich dich
noch nicht liebe», sagte sie, nachdem sie ein Jahr mitein-
ander gegangen waren und von ihren Freunden längst als
Paar betrachtet wurden.
    Owen war schockiert, insbesondere, da sie ausgestreckt
beieinander lagen, irgendwo, auf einem Bett, einem Fuß-
boden – es musste in Phyllis’ letztem Studienjahr gewesen
sein, als sie wieder zu ihren Eltern gezogen war, wo sie mit-
einander allein und ungestört sein konnten. Zwar streiften
sie nicht ihre heißen Kleider ab, aber sie «machten es»,
in jenen gehemmten, verhüllten Zeiten. Owen hatte an-
genommen, dass er liebenswert sei, wenn auch nicht der Beachtung der Ginger Bittings dieser Welt würdig. Seine
Mutter und Elsie hatten ihn geliebt.
    Er verriet keine Reaktion, drückte Phyllis nur enger an
sich und sagte: «Wirklich nicht? Ich liebe dich aber. Viel-
leicht liebst du mich, und du weißt es nur noch nicht.»
Gleichzeitig spürte er, wie sein Körper wegdriftete, weg-
gespült wurde von dem Gedanken, dass er vielleicht den
Fluss seines Lebens doch nicht durch diesen anderen,
fremden Körper leiten sollte.
    «Vielleicht», sagte Phyllis unbestimmt, und ihre Stimme
war belegt von Bedauern darüber, dass sie zu viel preis-
gegeben hatte. Ihr Gesicht

Weitere Kostenlose Bücher