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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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mir erinnern würde, wäre der kleine Negerbalg und Gittis dämliche Pigmentverschiebung. Es stieg heiß in mir hoch, wann immer ich daran dachte, und es dauerte Monate, bis ich keinen roten Kopf mehr bekam, wenn ich an Naumburg dachte und an Gitti mit ihrem kleinen Wilhelm. Als ich mit meinem silberfarbenen Adler am Ortsschild vorbeikam, ließ ich mehrmals die Dreiklanghupe ertönen, als sei ich bei einer Hochzeit oder in einem Festumzug. Ich war sicher, dass ich die dümmste und entwürdigendste Veranstaltung meines Lebens damit hinter mir ließ und wollte in der Zukunft die Augen aufhalten und mir von keinem mehr etwas erzählen lassen.
    Was ich damals nicht wusste, war, dass ich mit dieser Flucht, denn nichts anderes war es, geradewegs in mein wirkliches Unglück lief oder vielmehr fuhr, das mich sechs Jahre meines Lebens kostete und meinen heiß geliebtenAdler, was mich am meisten kränkte. Ein solches Auto war ein Glücksgriff und eigentlich nicht zu bekommen, jedenfalls nicht mit meinem Geldbeutel. Heute ist der Wagen unbezahlbar, wenn er von dem, der ihn nach mir bekam, wenigstens halbwegs gepflegt worden ist. Jede einzelne Schraube, jeden Zentimeter des Motors und der Karosserie hatte ich zwischen meinen Fingern, habe gefeilt und geputzt, habe Bolzen nachgeschliffen, Blechteile gehämmert und ersetzt, ich habe Federn, die nicht mehr hergestellt wurden, selber geschmiedet und gehärtet, habe Stoffe besorgt, die dem Original zum Verwechseln ähnlich waren und sie selber mit einer Nähmaschine oder mit einer Schusterahle genäht und in Form gebracht. Ich habe nie im Leben einen Adler wie meinen fabrikneu gesehen, alles was ich davon wusste, waren das Stück Schrott, das ich meinem Meister abgekauft hatte, und ein paar Bilder und Beschreibungen in alten Zeitschriften. Den Rest ergänzte ich nach meinen Vorstellungen von einer solchen Limousine.
    Ich weiß nicht, wo mein Auto heute herumfährt, in welcher Garage es steht, wer dieses Auto fährt, ich weiß nur, dass es in Wahrheit mir gehört. Ich halte noch immer die Augen offen und hoffe, ich werde meinen Adler eines Tages erblicken. Sicher werde ich den Fahrer ansprechen, ihm etwas von meiner Arbeit an diesem Wagen erzählen und wie er mir abhanden kam. Wenn er das Auto pfleglich behandelt hat, und das würde ich mit einem Blick sehen, werde ich ihm vielleicht die Hand geben und ihm Glück wünschen. Anderenfalls würde ich ihm meinen Adler stehlen, auch wenn mich das wieder ins Gefängnis bringen sollte. Ich bin fest entschlossen, mir mein Auto zu stehlen, wenn es nicht in einem tadellosen Zustand ist. Ich hatte schließlich Türschloss und Zündung selber erneuert, ich müsste also nicht mit einem gebogenen Draht herumfummeln. Ich würde mit genau dem richtigen, dem passenden Schlüssel den Wagen aufschließen und davonfahren, denn den Ersatzschlüsselhatte ich damals nicht herausgerückt, und dieser dämliche Beamte hatte nicht einmal danach gefragt. Es ist klar, dass ich nicht weit damit kommen würde. Mein Adler ist einfach zu auffällig, und es würde nichts nützen, ihn neu zu spritzen. Solch große Reiselimousinen werden heute nicht mehr hergestellt, er hat die Länge eines Präsidentenwagens, wie sie manchmal auf Fotos in den Zeitschriften zu sehen sind, Sondermodelle, die es nur einmal gab, jedenfalls nicht in Serie. Die Autos, die heute gebaut werden, sind Schachteln für jedermann, sie sind gewiss schneller und ökonomischer, als mein Goldstück es je war, zu einem richtigen Auto jedoch fehlen ihnen zwei Meter Länge. Mein Adler ist noch eine richtige Automobilkutsche, eine Reiselimousine, in der sich keiner krumm sitzt, in der man die Beine ausstrecken kann, selbst wenn man ein Zwei-Meter-Mann ist.
    Manchmal denke ich, vielleicht hat mein Wagen Glück und steht jetzt in irgendeinem Museum. Ich stelle mir dann vor, wie sich Erwachsene und Kinder um das Auto drängen und ihnen irgendjemand, der ganz gewiss keine Ahnung hat, erzählt, das sei der originale Adler, wie man ihn vor Jahrzehnten gebaut habe, und die Leute würden ihn anstaunen und ohne es zu wissen meine Arbeit loben, und alle würden glauben, der Wagen sei genau so aus den Adler-Werken gekommen.
    Heute habe ich wieder ein Auto, eins der üblichen, wie man sie sich fix und fertig kauft. Da schlägt einem nicht das Herz im Hals, wenn man die Tür öffnet und den Anlasser betätigt. Da setze ich mich rein, um rasch irgendwohin zu fahren. Nie im Leben käme ich darauf, mit so einem

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