Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
universale Manifest eines jeden gelten kann, der an die Würde des Menschen, an humanistische Werte und an die Zukunft glaubt – im Angesicht der Krematorien, an diesem Ort, wo die Zukunft das vielleicht einzig Sichere war, das es nicht gab? War es eine Art Protestakt, vielleicht absurd, vielleicht völlig zwecklos, aber ein Versuch, nicht aufzugeben und nicht den Glauben zu verlieren, und das Festhalten an jenen Werten, die letztlich nur von diesen Flammen vernichtet werden konnten und nicht von all dem, was ihnen an diesem Ort vorausging? Solange der Mensch atmet, atmet er Freiheit – irgendetwas in dieser Art?
Das ist die eine Möglichkeit, eine sehr schöne, aber es gibt noch eine andere, die vermutlich weitaus wahrscheinlicher ist und sich manchmal geradezu aufdrängt. Die Möglichkeit, dass dies ein Akt von extremem Sarkasmus war, an der äußersten Grenze eines Amüsements, das sich ein Mann erlaubte, der eine Gruppe argloser Kinder in seiner Obhut hatte und ihnen arglose Werte einflößte – erhabene, wunderbare Werte –, obwohl er selbst wusste, dass diese Werte keinen Sinn und keinen Zweck haben und bedeutungslos sind. Ein beinahe dämonischesAmüsement, den Tag und Nacht lautlos brennenden Flammen und den Kolonnen, die in den unersättlichen Krematorien verschlungen wurden, eine Begleitmelodie zu singen.
Abb. 14
Die zweite Erklärung erscheint zumindest logischer. Die erste aber ist sehr verführerisch, man würde sie gerne glauben. Vielleicht glaube ich an sie. Vielleicht hat sie mich beeinflusst, sogar sehr beeinflusst, und viele Dinge geprägt, mit denen ich mich beschäftige und an die ich glaube. Aber oft denke ich auch, dass ich mich hier an eine Illusion klammere, die ich auf verschiedene Arten weitergebe. Denn dieser abgründige, extremste Sarkasmus, der alle Grenzen des Erträglichen überschreitet, kann auch als Maßstab für sehr viel alltäglichere Variationen dieser Realität in einer Welt dienen, die nicht nach dem unerschütterlichen Glauben eines Beethoven und eines Schiller an sich verfährt, sondern nach Beethoven und Schiller, die schon einmal im Angesicht der Krematorien von Auschwitz gesungen worden sind. Das freilich ist ein Teil meiner ganz persönlichen Mythologie. Ich kehre öfter dorthin zurück, und es beschäftigt mich auch in beruflichem Kontext, selbst wenn ich diese Episode niemals direkt erwähne. Aber wenn ich die Kontinuität der gesellschaftlichen Normen, ihrer kulturellen und moralischen Werte erkläre, die von der nationalsozialistischen Machtergreifung bis an die Schwelle der Mordgruben und der Krematorien reichte – dann neige ich, oft vielleicht unbewusst, dazu, mich für jene völlig aussichtslose Demonstration zu entscheiden, als die einzig mögliche Reaktion in dieser Situation. Dennoch denke ich, wie gesagt, dass die Illusion hier manchmal viel größer ist als der schneidende Sarkasmus oder das zynische Spiel dessen, der es angesichts des massenhaften Todes dort noch immer hatte spielen können. Dieser Ansatz war vielleicht, ich will nicht sagen realistischer, aber authentischer.
Für mich bleibt die Frage offen, so wie die nach beiden Seiten geöffneten Arme von Imre, die geöffnet blieben. Die Entscheidung zwischen links und rechts, oder wann ich mich für links und wann für rechts entscheide – das macht im Grunde den Zusammenhalt meiner Existenz aus, meiner Beschäftigung mit der Vergangenheit und der Gegenwart von damals bis heute.
4 Aus: Dan Pagis, An beiden Ufern der Zeit. Ausgewählte Gedichte und Prosa. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, Straelen 2003, S. 39.
5 Vgl. den Aufsatz im Anhang.
6 Madrich (im Plural madrichim ) ist ein Begriff aus der zionistischen Jugendbewegung, für den es keine genaue Übersetzung gibt. Er leitet sich ab aus dem hebräischen Wort für Weg oder Pfad und bedeutet so viel wie Jugendleiter, Lehrer, Erzieher in einem (Anm. d. Ü.).
7 Seine Gedichte wurden in einer zweisprachigen Ausgabe auf Deutsch und Hebräisch postum veröffentlicht: Gerschon Ben-David, In den Wind werfen. Versuche um Metabarbarisches. Gedichte. Straelen 1995.
8 Imre war sein Spitzname im Kinderblock, sein richtiger Name jedoch Emmerich Acs . Er war am 28. 9. 1912 geboren, am 6. 9. 1943 von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert worden und starb am 8. 3. 1944 in der Gaskammer. Siehe Miroslav Kárný et al. (Hrsg.): Terezínská pamětní kniha. Židovské oběti nacistických deportací z Čech a Moravy 1941–1945 (Terezín
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