Lang lebe die Nacht: Ein phantastischer Historienroman (German Edition)
verabschiedete sich der Graf schließlich, um in seinem Arbeitszimmer nicht gestört zu werden. Wir zogen uns mit einer Flasche Portwein in den Salon zurück, in der Hoffnung, durch Überlegen unsere versteifte Logik aufzulockern und auf etwas zu kommen, das wir übersehen haben mussten.
Marius hatte uns am frühen Abend berichtet, dass die Roma-Zigeunerin und Mathilda Hauser alte Freundinnen waren. Mehr hatte er nicht herausbekommen, dann hatten sie ihn verscheucht.
„Kräuterfrauen“, hatte er gesagt. „Schrullig, aber weise. Wenn ihr mich fragt, haben die nichts zu verbergen. Aber vielleicht glauben sie an die alten Geschichten, und ihr solltet mal ein wenig offene Konversation miteinander betreiben.“
Doch dazu war es zu spät gewesen, und während der Wind draußen den Regen gewaltsam gegen die Fenster peitschte, grübelten wir in meisterlicher Geistesblindheit vor uns hin.
Unterbrochen wurden wir von Caspar, dem britischen Butler, der etwas gehetzt den Salon betrat und uns um unseren Rat, besser noch um unsere Mithilfe bat, denn der Graf wollte und sollte nicht gestört werden.
Artig – und ohnehin ergebnislos – folgten wir dem Hausdiener in die Eingangshalle, wo ein völlig durchnässter Mann bibbernd versuchte, nicht allzu viel Wasser auf den ausladenden Teppichen der Residenz zu verteilen.
„Das ist unser Müller, Herr Roth“, erklärte Caspar.
„Um Gottes willen“, entfuhr es mir. „Was um alles in der Welt haben Sie denn bei diesem Wetter und um diese Uhrzeit draußen getan?“
Doch Roth konnte nicht antworten, das Zittern vor der Kälte fraß ihn auf.
„Es ist eine Angelegenheit, die eventuell in Ihr Metier passen dürfte“, erklärte Caspar. „Zumindest erklärte er das, als er noch nicht so durchgefroren war.“
„Gut, aber holen Sie dem Mann doch einen heißen Grog“, bat ich den Butler, „und zwar – aller dienerlichen Korrektheit zum Trotz – bevor er erfroren ist!“
Ohne ein weiteres Wort machte Caspar sich davon.
„Hagen, besorg unserem Müller doch bitte mal eine Decke oder am besten gleich zwei oder drei!“, forderte ich Hagen auf, während ich den völlig versteiften Roth langsam dazu brachte, sich auf eine Holztruhe zu setzen.
Nachdem wir den ganz und gar nicht wettertauglichen Aufzug des Mannes gegen ein paar Decken getauscht und seiner Stimme durch etwas Wärme wieder so viel Substanz verliehen hatten, dass er sprechen konnte, berichtete er von seiner Geschichte.
„Vergangene Nacht hatte ich das merkwürdige Erlebnis, dass sich die Mühle drehte, ohne überhaupt mit Segeln bespannt zu sein. Ich hatte sie nicht aufgezogen wegen des Sturms. Doch diese Nacht war es wesentlich schlimmer. Ich konnte sie nicht bremsen, denn irgendwie schienen die Achsen miteinander verhakt zu sein. Dann erschien dieser Irre. Ich habe zuvor nicht an Geister geglaubt, aber jetzt tue ich es. Ganz gewiss. Nachdem man über eine Spukgestalt gemunkelt hatte, die im Kaufmannshaus Ehlert gewütet haben soll, hat sich das niedrige Volk so seine Späße erlaubt, müssen Sie wissen. Aber jetzt … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Da war dieser irre, zerlumpte Kerl, der ein Akkordeon schwang und sang wie ein Verrückter. Dabei faselte er die ganze Zeit etwas von der Mühle und dem Sturm und … ach … es ist schon schwer.“
Gebannt lauschten wir der Erzählung Roths, tauschten nur stumme Blicke aus. Schnell jedoch beschlossen wir, der Sache auf den Grund zu gehen. Jeder von uns rührte sich im Kopf sein eigenes Süppchen aus Seltsamkeiten und den sich daraus ergebenden Fragen zusammen.
Wir zogen dicke Lodenmäntel und schwere Stiefel an. Selbst Salandar sah von seinem sonst so extravaganten Kleidungsstil ab und wählte einen entsprechend praktischen. Dann ließen wir uns den Weg zur Mühle erklären, wiesen Caspar an, doch bitte auf unsere Rückkehr zu warten, und traten hinaus in den widerlichen Herbststurm.
Es war kalt, nass und windig. Der Regen kam in Myriaden kleiner Tropfen vom Himmel und drang uns in Kragen und Ärmel und in jede Ritze und jeden Spalt, den die Kleidung ihm bot.
Die Mühle des Herrn Roth lag eine halbe Stunde Fußmarsch auf der anderen Seite des Städtchens, und so gingen wir in den Windschatten der Häuser gedrängt die Alte Straße hinab, vorbei am Friedhof, bis wir schließlich die befestigten Straßen und Wege verlassen mussten und uns über eine sumpfige Wiese den Hügel zum Waldrand hinauf kämpften, auf dem sich die Mühle mit unbespannten Flügeln
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