Lang lebe die Nacht: Ein phantastischer Historienroman (German Edition)
legen.
Das Kreuz, das sie legte, bestand aus zehn Karten, vergilbt und verbogen von all den Jahren, in denen sie geweissagt, gewonnen und verloren hatten.
Nach und nach deckte die Wahrsagerin sie auf und deutete sie.
Die erste zeigte den Tod, die Ursache, den Beginn unserer Odyssee, unseres Wanderns durch die Düsternisse der Stadt Leyen.
Dann legte die Roma die zweite Karte offen auf die erste. Der Narr. Wir stolperten wahrhaftig umher wie die Narren, Homer hätte seine wahre Freude an uns gehabt, während er fein säuberlich Jamben und Trochäen um unser Geschick gesponnen hätte.
Drei Kelche zeigte uns die nächste Karte. Wir befanden uns auf einer Reise voller Überdruss und ohne Entrinnen. Ein Suchen und Suchen, ohne den Ansatz zur Lösung.
Das Suchen war die Situation des Bittstellers, dieser war der Magier, dessen Karte die Roma auf die Kelche legte. Verblüffung über das, was die Frau uns erzählte, überkam mich. Dabei wusste ich doch, dass es sich nur um kleine Tricks des Verstandes handeln konnte ... oder etwa nicht? Immerhin hatte ich schon viel gesehen ...
Die Zwei der Stäbe beleuchtete die Tiefen der Vergangenheit als Welt gewordene Kraft und manifestierter Wille. Betraf dies uns? Oder waren wir nur Opfer eines ausschweifenden Bedrängers? Doch die sechs Schwerter kündeten von einem neuen Ansatz, einer neuen Idee, die uns oder irgendjemanden ereilen sollte. Aber natürlich war nicht klar, ob irgendjemand die geistige Kehrtwende auch vollziehen würde.
Sie deckte die nächste Karte auf, sie zeigte einen Wagen.
Während die Roma etwas davon faselte, es gelte, etwas Altes zu vollenden, fühlte ich mich geneigt, den Wagen auf unsere derzeitige Situation im Zigeunerwagen zu beziehen.
Bei der nächsten Karte sog Salandar geräuschvoll die Luft ein.
Ihre Vorderseite war schwärzer als Kohle. Vollkommene Dunkelheit, gebannt auf eine Spielkarte.
„Was ist das für eine Karte?“, fragte er.
„Die Nacht.“
„Die Nacht?“
„Eine Karte, die es nicht in jedes Kartendeck geschafft hat. Doch diejenigen unter uns, die eine von ihnen besitzen, dürfen sich um ihrer bereichernden seherischen Fähigkeiten Willen glücklich schätzen ...“
Ich sah die Roma scheel an, dann fiel mein Blick auf die Karte, und ich betrachtete sie eingehender.
Etwas Unwirkliches schien von ihr auszugehen, beinahe als stanze die vollkommene Schwärze auf ihrer Oberfläche ein Loch in diese Welt.
„Die Nacht ist das Universum“, legte unsere Gastgeberin die Karte aus, „und in dieser Position nimmt sie diese Funktion in gewissem Sinne gleich doppelt ein. Die Lage ist ungewiss, wie von einem dunklen Schleier verborgen.“
Lang, lang lebe die Nacht!
Noch während sie sprach, legte sie die Karte des Äons auf den Tisch.
„Rückblickend scheint die Situation eine Erlösung zu sein“, murmelte sie, während sie die Karte richtig herum drehte und auf die Zwei der Stäbe legte, um daraufhin die letzte Karte aufzudecken.
„Die Zwei der Kelche“, stellte sie offenbar ein wenig verblüfft fest. „Verständnis, Einheit, Liebe ... Ich darf deine Frage nicht kennen, aber es verwundert mich stark, wie dieses langfristige Zeichen in ein derart düsteres Deck passen will ...“
Vor uns lag ein Kreuz aus zehn Karten. Zwei in der Mitte und je zwei in jeder Himmelsrichtung.
Salandar schien noch eine Weile darüber zu grübeln, bevor er die Roma entlohnte und wir uns von dannen machten.
Es war verblüffend, verstörend, deprimierend … und eine Reihe weiterer Empfindungen.
„Sind wir jetzt schon so weit, uns von zweitklassigen Scharlataninnen helfen zu lassen?“, schimpfte ich, als wir gerade außer Hörweite waren. Aber Salandar winkte ab.
„Es ist nie falsch, die Lage von einer anderen Seite zu reflektieren. Tarot ist eine Meditation. Es hilft, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten.“
„Aha, und? Hat es was gebracht?“
Salandar sah geistesabwesend drein.
„Marius?“, fragte er.
„Ja?“, schnurrte der, eine Spur von Abneigung gegen Salandar in der Stimme.
„Ich möchte, dass du herausfindest, wen die Roma besucht.“
„Das weiß ich längst.“
Dieser Kater war einmalig. Einmalig frech, einmalig unverschämt, aber auch einmalig interessant.
„So?“, fragte Salandar, nachdem Marius, statt eine Antwort zu geben, begonnen hatte, sich die Pfote zu lecken und vermeintlichen Dreck hinter seinen Ohren wegzuputzen.
„Mathilda Hauser. Sie ist eine alte, sehr wunderliche Frau – ich
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