Lang lebe die Nacht: Ein phantastischer Historienroman (German Edition)
ich streckte geistesgegenwärtig meinen Arm aus, packte die Armbrust und verriss die Schussbahn. Der Bolzen sauste in die Nacht davon.
Sie reagierte wie eine Rachegöttin.
„Was soll das?“, rief sie.
Doch statt ihr zu antworten, blickte ich nach oben, dorthin, wo just in diesem Moment ein gewaltiges Krachen zu hören war.
Einer der unbespannten Mühlenflügel riss infolge seiner unnatürlichen Beanspruchung durch Wind und Geist ab und raste unkontrollierbar dem Erdboden entgegen.
Ich sprang zur Seite und riss die Frau mit, nur, um dem tödlichen Holz um Haaresbreite zu entgehen, während es neben uns krachend auf der feuchten Wiese aufschlug und zersplitterte.
„Nein, nein“, heulte der Müller. Doch durch die Unwucht schlingerte das gesamte Konstrukt der Mühle. Zwei weitere Flügel rissen ab und flogen davon. Zu unserem Glück in andere Richtungen als die unsrige. Schließlich brach die Achse, an der der verbliebene Flügel hing, und eben jener bohrte sich in die Außenwand des Gebäudes.
Ich lag keuchend im Gras, halb aufgesetzt, Maria Regener neben mir. Ihre Entrüstung war verflogen, ungläubig blickte sie durch ihre regennassen, schwarzen Strähnen auf das Geschehen.
Der gespenstische Müller schlug verzagt und niedergeschlagen die Hände über dem Kopf zusammen. Der Sturm ließ langsam, aber konstant nach.
„Ich denke, damit hätte sich der Sturm erledigt“, stellte Salandar fest, während auch er sich hochrappelte.
Hagen war in die Mühle gestürmt und kam mit der flackernden Petroleumlampe wieder.
„Was haltet ihr davon, wenn wir das Ganze drinnen besprechen?“
„Nein“, weinte der Müller. „Bitte, lasst mich in Frieden, ihr habt schon genug angerichtet.“
Hagen wollte etwas einwenden, doch ich kam ihm zuvor.
„Unter einer Bedingung.“
Ich stand auf, und der Müller starrte mich einen Augenblick lang argwöhnisch an.
„Welche Musik hat Sie gerufen?“
Eine Weile sah ich in die zutiefst durch menschlichen Schmerz bewegten Augen des alten Geistes. Dann ließ er sich endlich zu einer Antwort herab.
„Die Geige“, entgegnete er erschöpft. „Die Menschenknochengeige.“
„Menschenknochengeige?“
„Ja doch“, beschwor er mich, „und jetzt gehen Sie. Bitte!“
Die verwirrte Maria Regener begleitete uns. Wir hatten ihr einen Grog im Salon des Landsitzes angeboten, außerdem unsere Vornamen, da wir es für konstruktiver hielten, es uns mit eine Frau ihres Kalibers nicht zu verscherzen. Außerdem schien sie nach meiner ungestümen Rettungsaktion etwas versöhnlicher gestimmt.
Als wir unserer Mäntel entledigt in die Sessel des Eulen-bach’schen Gesellschaftszimmers fielen, war unsere Fähigkeit, klar zu denken, bereits auf ein Minimum geschrumpft. Die Grogs brachte Caspar uns, der sich in unserer Abwesenheit auch um den ruhigen Schlaf des Müllers Roth gekümmert hatte – unter viel Alkoholeinfluss im Dienertrakt.
Hagen war bereits weggedöst, Maria Regener ebenfalls. Ihre Grogs dampften auf dem Tablett, das der müde Caspar abgestellt hatte, um sich dann seinerseits endlich zu empfehlen. Schließlich musste er morgen früh halbwegs arbeitsfähig sein.
„Woran denkst du?“, fragte ich in den Raum hinein in Richtung Salandar.
„An die Menschenknochengeige“, brummte er.
„Denken wir an dieselbe Geige?“
„Vermutlich schon.“
6.
Von Zeit zu Zeit kam einem die Welt unwirklich vor, obwohl man alles zu fühlen und zu riechen imstande war.
So war es auch an diesem Morgen.
Morgens sei die Welt noch unschuldig, hieß es oft. Unberührt von den Sorgen und Qualen, den Ungerechtigkeiten und den Sehnsüchten ihrer Kinder. Morgens, hieß es, könne man das große Lied vom Leben und Vergehen noch klingen hören.
Am Morgen käme die Rettung, hieß es schon im Psalter.
Maria Regener hatte mich nicht an die Hand genommen und in den Wald gezogen, das war ganz und gar nicht ihre Art.
Aber es kam mir ein wenig so vor. Was um alles in der Welt hätte mich sonst dazu bewegen können, mich in aller Herrgottsfrühe mit ihr in den tiefen Wald des Weserberglandes aufzumachen? Sie hatte mich einfach gefragt, mich sanft wachgeschüttelt, während es draußen noch beinahe dunkel gewesen war und die anderen selig im Salon vor sich hin geschlummert hatten.
Wir hatten unsere vor dem Kamin getrockneten Mäntel und Stiefel übergestreift und waren aufgebrochen.
Die Luft war feucht vom Tau, und es roch nach Moos und Wurzeln. Die Blätter, die die Bäume schon hatten fallen lassen,
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