Lange Zähne
auf einem Haufen gesehen. Woher
hatte sie all das Geld? Ganz sicher nicht daher, daß sie bei einer
Versicherungsgesellschaft Schadensansprüche bearbeitet hatte. Vielleicht war
sie Drogenhändlerin. Schmugglerin. Vielleicht hatte sie es unterschlagen.
Vielleicht war alles nur eine Falle. Vielleicht würde man ihn verhaften, sobald
er zur Polizei kam, um ihren Wagen abzuholen. Sie hatte ganz schön Nerven,
ihren Brief mit »In Liebe« zu unterschreiben. Was würde im nächsten stehen? »Tut
mir leid, daß du meinetwegen im Zuchthaus sitzt. In Liebe, Jody.« Aber sie hatte so unterschrieben: »In Liebe.« Was bedeutete das? Meinte sie es
ernst, oder war es nur Gewohnheit? Wahrscheinlich unterschrieb sie all ihre
Briefe mit »In Liebe«.
Sehr geehrter Versicherungsnehmer,
wir müssen Ihnen mit Bedauern mitteilen, daß Ihre Police nicht die Kosten Ihres
Barium-Einlaufs deckt, da die Behandlung auf Ihren persönlichen Wunsch hin
vorgenommen wurde. In Liebe, Jody. Sachbearbeiterin ...«
Vielleicht auch nicht.
Vielleicht liebte sie ihn
tatsächlich. Sie mußte ihm vertrauen, denn sie hatte ihm viertausend gegeben.
Er stopfte das Geld in die hintere
Hosentasche, nahm die Papiere und verließ das Zimmer. Als er die Treppe zum
Erdgeschoß hinunterlief, stolperte er über einen großen schwarzen Plastiksack,
gefüllt mit toter Frau. Ein Assistent des Leichenbeschauers packte ihn gerade
noch rechtzeitig am Arm, bevor Tommy lang hinstürzte.
»Nicht so hastig, Freundchen«,
sagte der Assistent. Er war ein massiger, behaarter Typ in den Dreißigern.
»Tut mir leid.«
»Ist schon in Ordnung, Junge. Sie
ist frischeversiegelt. Mein Kollege holt gerade die Bahre.«
Tommy starrte auf den schwarzen
Sack. Er hatte bis jetzt erst einen Toten in seinem Leben gesehen, seinen
Großvater. Der Anblick hatte ihm nicht gefallen.
»Wie ist es ... ich meine, war es
Mord?«
»Ich setze auf kreativen
Selbstmord. Sie hat sich selbst das Genick gebrochen, sich das Blut
rausgesaugt, dann hat sie den Hund abgemurkst und ist in den Müllcontainer
gehüpft. Der Leichenbeschauer hält es hingegen für Mord. Sie können es sich
aussuchen.«
Tommy war bleich vor Entsetzen.
»Ihr wurde das Blut rausgesaugt?«
»Sind Sie Reporter?«
»Nee.«
»Ja, ihr fehlen etwa drei Liter, und
es gibt keine sichtbaren Verletzungen. Der Leichenbeschauer mußte bis ins Herz
bohren, um eine Blutprobe zu bekommen. Hat ihm nicht gefallen. Er ist mehr für
die einfachen Fälle - Enthauptung durch Cable-Cars, schweres Einschußtrauma - Sie
wissen schon.«
Tommy erschauderte. »Ich komme aus
Indiana. So was passiert dort nicht.«
»So was passiert auch hier nicht,
Junge.«
Ein hochgewachsener, dürrer Mann
in der blauen Uniform der Leichenbeschauer kam um die Ecke, vor sich eine
Rollbahre mit einem kleinen, grauen, toten Hund darauf. Er hob den Hund an
seinem Straßhalsband hoch. »Was mache ich hiermit?« fragte er den behaarten
Dicken. Der Hund drehte sich langsam am Ende der Leine, wie ein pelziger
Weihnachtsbaumbehang.
»In den Sack und 'n Schild an den
Zeh?« erwiderte der behaarte Dicke.
»Einen Hund? So was hatten wir
noch nicht.«
»Ist mir doch scheißegal. Mach,
was du willst.«
»Nun«, unterbrach Tommy, »Ihnen
beiden noch einen recht schönen Tag.« Er eilte zur Bushaltestelle davon. Als
der Bus hielt, schaute Tommy zurück und sah, wie die beiden Männer den kleinen
Hund zur Frau in den Leichensack stopften.
Tommy stieg an einem Café in der
Nähe von Chinatown aus, wo er Typen mit Baskenmützen gesehen hatte, die in
Notizbücher kritzelten und französische Zigaretten qualmten. Wenn man nach
einem Platz suchte, wo man einfach dasitzen und eine Weile lang in den Abgrund
starren konnte, sollte man immer nach Typen mit Baretts Ausschau halten, die
französische Zigaretten qualmten. Sie waren wie Straßenschilder: »Existenskrise,
nächste Ausfahrt rechts.« Und der Zwischenfall mit dem Leichensack hatte Tommy
in die Stimmung versetzt, einige Minuten über die Sinnlosigkeit des Seins
nachzugrübeln, bevor er sich auf Wohnungssuche machte. Sie hatten die arme Frau
wie ein Stück Fleisch behandelt. Da hätten Leute sein sollen, die weinten und
in Ohnmacht fielen und um ihr Erbe stritten. Wahrscheinlich handelte es sich um
eine Art Schutzmechanismus, ein weiteres Beispiel der Fähigkeit von
Großstädtern, Leid und Elend zu ignorieren.
Tommy bestellte sich an der Theke
einen doppelten Mokka. Ein Mädchen mit magentaroten Haaren und drei
Weitere Kostenlose Bücher