Lange Zähne
Plans: Leb in der Stadt,
schreib Geschichten, schau dir die Brücke an, fahr mit den Cable-Cars, iß
Rice-A-Roni, und such dir eine Freundin - eine Frau, der er seine Gedanken
mitteilen konnte, vorzugsweise, nachdem er Stunden und Aberstunden göttlichen
Sex mit ihr genossen hatte. Er suchte nicht nach Perfektion, nur nach einer
Frau, die ihm genug Sicherheit gab, daß er in ihrer Nähe unsicher sein konnte.
Aber nicht jetzt. Jetzt war er verloren.
Er betrachtete die Skyline und
erkannte, daß er falsch gesteuert hatte und etliche Blocks von der Pyramide
entfernt in das Bankenviertel gekommen war. Er folgte einem Zickzack-Kurs von
Block zu Block, wobei er Blickkontakten mit den Männer und Frauen in
Geschäftskleidung auswich, die ihrerseits dem Blickkontakt auswichen, indem sie
alle paar Schritte auf ihre Uhren sahen. Natürlich, dachte Tommy bei sich, die
können auf ihre Uhren sehen. Die haben ja auch eine Zukunft.
Er kam ein wenig außer Atem am Fuß
der Pyramide an, die Arme verkrampft vom Tragen seiner Habseligkeiten. Er
setzte sich auf eine Betonbank neben einem Brunnen und beobachtete eine Weile
die vorbeigehenden Menschen.
Sie waren alle so zielstrebig. Sie
mußten alle irgendwohin, mußten Leute treffen. Ihr Haar war perfekt frisiert.
Sie rochen gut. Sie trugen hübsche Schuhe. Er blickte auf seine eigenen
ausgetretenen Lederturnschuhe. Am Arsch.
jemand setzte sich neben ihn auf
die Bank. Tommy zwang sich, nicht aufzusehen, denn es würde bestimmt nur wieder
jemand sein, der ihm ein Minderwertigkeitsgefühl gab. Er starrte auf die Stelle
auf dem Beton zu seinen Füßen, als ein Boston Terrier an der Stelle auftauchte
und ihm eine Fontäne Hundeschnodder gegen sein Hosenbein nieste.
»Bummer, das ist unhöflich«,
tadelte der Kaiser. »Kannst du denn nicht sehen, daß unser Freund schmollt.«
Tommy blickte hoch in das Gesicht des
Kaisers. »Euer Hoheit. Hallo.« Der Mann hatte die buschigsten Augenbrauen, die
Tommy je gesehen hatte, so als würden zwei graue Stachelschweine auf seiner
Stirn hocken.
Der Kaiser tippte sich an seine
Krone - die aus Metallstücken von Bierdosen bestand, die mit gelbem Garn
zusammengehalten wurden. »Hast du die Stelle bekommen?«
»Ja, sie haben mich noch am selben
Tag eingestellt. Vielen Dank für den Tip.«
»Es ist ehrliche Arbeit«, sagte
der Kaiser. »Es liegt eine gewisse Noblesse darin. Nicht wie diese Tragödie
hier.« »Welche Tragödie?«
»Diese armen Seelen. Diese armen,
traurigen Seelen.« Der Kaiser deutete auf die Passanten.
»Ich verstehe nicht«, sagte Tommy.
»Ihre Zeit ist vorbei, und sie
wissen nicht, was sie tun sollen. Man hat ihnen gesagt, wonach sie streben, und
sie haben es geglaubt. Sie können ihren Traum nur am Leben erhalten, indem sie
mit ihresgleichen zusammen sind, die denselben Illusionen nachhängen.«
»Sie haben sehr hübsche Schuhe«,
bemerkte Tommy.
»Sie müssen das richtige Aussehen
haben, sonst würden sich ihre Gefährten auf sie stürzen wie ausgehungerte
Hunde. Sie sind die gefallenen Götter. Die neuen Götter sind Produzenten,
Schöpfer, Handelnde. Die neuen Götter sind kinnlose Techno-Kinder, die lieber
Zucker essen und Science-fiction-Filme sehen als sich darüber Gedanken zu
machen, welche Schuhe sie tragen. Und diese armen Seelen gehen verzweifelt
ihrem sinnlosen Tagwerk nach, in der Hoffnung, daß eine geheimnisvolle
Botschaft erscheinen wird, um sie vor den neuen, seltsamen, brillanten Göttern
und ihrer Silicon-Chip-Realität zu retten. Natürlich werden einige von ihnen
überleben, aber die meisten werden untergehen. Für unkreatives Denken sind
Maschinen besser geeignet. Die armen Seelen, man kann beinahe hören, wie sie
schwitzen.«
Tommy schaute auf den
gutgekleideten Strom von Geschäftsleuten, dann auf den zerschlissenen Mantel
des Kaisers, dann auf seine eigenen Turnschuhe, dann wieder zum Kaiser. Aus
irgendeinem Grund fühlte er sich besser als noch vor wenigen Minuten. »Diese
Menschen liegen Ihnen wirklich am Herzen, stimmt's?«
»Das ist mein Schicksal.«
Eine attraktive Frau in einem
grauen Kostüm und Pumps trat zum Kaiser und reichte ihm eine Fünfdollarnote.
Sie trug ein Seidenhemdchen unter ihrer Jacke, und Tommy konnte die obere Kante
ihres Spitzen-BHs sehen, als sie sich vorbeugte. Er war wie hypnotisiert.
»Euer Hoheit«, sagte sie, »heute
gibt es im Café Suisse chinesischen Hähnchensalat als Tagesgericht. Ich denke,
das wäre genau das richtige für Bummer und Lazarus.«
Lazarus
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