Langenscheidt Nachbar-Deutsch u Deutsch-Nachbar
Kleinraumwohnen lernen will, der fragt entweder bei seinen asiatischen Kommilitonen nach oder reist selbst auf das chinesische Festland beziehungsweise nach Hongkong. Dort schaffen es zum Teil mittelgroße Familien mit Wohnflächen von knapp 30 Quadratmetern auszukommen. Quasi als Mehrgenerationenwohnung – alles wunderbar geordnet und sauber!
Auf dem Balkönchen stehen übrigens die bei Mama ausgegrabenen Klappstühle und ein Bistrotischchen. Und natürlich ein paar gut gefüllte gelbe und blaue Müllsäcke sowie die vollen Bierkästen. So bleiben die Getränke im Sommer schön warm beziehungsweise sorgen geplatzte Pullen im Winter für Glatteis außen auf der vierten Etage. Die einzige Wohnung mit eigener Natureisbahn von Dezember bis März – ein echter Etagenluxus. Alles in allem: schöner Wohnen auf studentisch.
Passt schon: Zwei- bis Dreizimmerwohnung für Normalos
Das Wohnrevier für zwei bis vier Personen mit einem Verdiener oder doppeltem Rentenbezug. Wohnen genau wie aus dem Möbelkatalog. Natürlich mit sichtbaren Abnutzungserscheinungen bei der Schrankwand, der Couchgarnitur und/oder der Waschmaschine. 60 bis 80 Quadratmeter, praktisch geschnitten, mit gefühltem Parkett, also Stäbchenlaminat. Volle 50 von 100 möglichen Wohnpunkten – das ist absoluter Durchschnitt und stinknormal.
Selbstverständlich ist alles nett und adrett, ordentlich und zum Gähnen spannend. Das Einzige, was hier für Aufregung sorgt, ist abends der TV-Krimi oder Jutta im Negligé. Optisch störend in diesem „Stillleben“ wirkt nur das Pinienholztrumm mit den Doppeltüren an der Fensterseite, vor dem auch noch ein Bürohocker steht. Da drin befindet sich die EDV-Abteilung des Hauses: der dicke Aldi-PC mit dem neuen Flachbildschirm und dem Drucker auf Kniehöhe inklusive Ausziehtischchen.
Im Wohnzimmer ist der Platzkonkurrent des Homeoffice längst nicht mehr das Bücherregal, sondern der Plasmafernseher in Großleinwandformat! Der bei jedem Bundesligaspiel so gestochen scharfe Bilder liefert, dass man sofort sieht, welcher Stürmer der gegnerischen Mannschaft am Oberschenkel Cellulite bekommen könnte oder seine Achselhaare nicht rasiert und deshalb zu Zöpfchen geflochten hat. Ob die Kanzlerin bei ihrer Neujahrsansprache was drunter trägt, sieht man übrigens auch, tolle Kiste! Er hat sie alle von der Wand verdrängt, selbst die röhrenden Hirsche und das Alpenpanorama im Barockrahmen. Quer durch alle Altersschichten gilt: Ohne Flachbildfernseher beziehungsweise Gamecenter ist das Wohnzimmer keines mehr, ganz klar. Die Multimediawand muss sein!
Tipp: Wer Bewohnern einer Zwei- bis Dreizimmerwohnung eine Freude oder Geschenke machen will, der liegt mit einem Gutschein aus einem großen Online-Kaufhaus – vielleicht wird es ja doch mal ein Buch und kein neues Game – oder einem großen Möbelhaus zu hundert Prozent richtig. Spielwarengutscheine gehen bei Familien mit Kind(ern) natürlich auch immer.
Das zweite investitionsrelevante Zimmer ist natürlich die Küche – der Mittelpunkt für jede brutzelnde Mutti: eine Genusszentrale wie bei Fernsehkochs im Studio, komplett ausgestattet mit 28 stromfressenden Küchenhelferlein der semiprofessionellen Luxusklasse. Und als Hausaltar mittendrin der fast frei stehende Herd mit Induktionsfeld sowie Gasflamme. Plus Reliquien, also gerahmte, hart erkämpfte Autogrammkarten sowie eigene Schnappschüsse der geliebten Fernsehköche. 9,4 Quadratmeter perfekt eingerichtete und erstklassig ausgestattete Haushaltsgastronomie. Auf Ratenkredit abzuzahlen in nur noch 22 Jahren, drei sind nämlich schon rum!
Etagenluxus pur: Penthouse und Loft
Sie sind es nicht nur, sie haben es auch – die Etagenreichen, die sich damit auch noch gut fühlen. Ab 300 Quadratmeter Wohnfläche aufwärts. Was so ein statisch intaktes Mehrfamilienhausdach oder eine ehemalige Fabriketage eben flächenmäßig hergibt.
Hinweis: Die Einrichtung hat selten etwas mit dem Geschmack des Bewohners zu tun. Was dieser schön findet, bestimmen überwiegend ein oder mehrere Inneneinrichter (Interior-Designer) und deren stilistische Vorlieben. Die müssen ja nicht selbst drin wohnen, es reicht, wenn die neureichen, farbenblinden Designmasochisten den Etagentempel nach diesem Verbrechen an Auge, Bequemlichkeit und Wohnkultur für hip erklären.
Dort trägt dann ein gut präparierter Löwe eine tonnenschwere Acrylplatte auf dem breiten Rücken und gibt sich als veritabler Esstisch für zwölf Personen aus. Um ihn
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