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Langoliers

Titel: Langoliers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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desorientiert, aber nur einen Moment; er war Profi in einem Beruf mit hohen Risiken und hoher Verantwortung, einem Beruf, in dem eine der absoluten Grundvoraussetzungen eine schnelle Reaktionszeit war. Er war auf Flug Nr. 29, nicht Flug Nr. 7, nicht von Tokio nach Los Angeles, sondern von Los Angeles nach Boston, wo Anne bereits tot war – nicht Opfer eines Druckabfalls, sondern eines Feuers in ihrem Luxuswohnblock in der Atlantic Avenue. Aber das Geräusch war immer noch da. Es war ein kleines Mädchen, das schrill schrie.
     
5
     
    »Würde bitte jemand mit mir sprechen!« sagte Dinah Bellman mit leiser, deutlicher Stimme. »Es tut mir leid, aber meine Tante ist weg, und ich bin blind.«
    Niemand antwortete ihr. Vierzig Reihen und zwei Trennwände weiter träumte Kapitän Brian Engle, dass sein Navigator weinte und eine dänische Gebäckrolle aß.
    Nur das anhaltende Dröhnen der Antriebsdüsen war zu hören.
    Die Panik überschattete ihren Verstand wieder, und Dinah griff zum einzigen Gegenmittel, das ihr einfiel: Sie machte den Sicherheitsgurt auf, stand auf und tastete sich in den Mittelgang.
    »Hallo?« fragte sie mit lauterer Stimme. »Hallo, ist da jemand?«
    Immer noch keine Antwort. Dinah fing an zu weinen. Sie beherrschte sich dennoch grimmig und schritt langsam auf der Backbordseite den Gang entlang. Aber zählt mit, warnte ein Teil ihres Verstands sie hektisch. Zähl mit, wie viele Reihen du gehst, sonst verirrst du dich und findest den Rückweg nie mehr.
    Sie blieb an der Reihe der Backbordsitze gleich nach der stehen, wo sie und Tante Vicky saßen, und bückte sich mit ausgestrecktem Arm und gespreizten Fingern. Sie wappnete sich, das schlafende Gesicht des Mannes zu berühren, der dort saß. Sie wusste, da saß ein Mann, denn Tante Vicky hatte sich knapp eine Minute vor dem Start mit ihm unterhalten. Als er antwortete, kam seine Stimme vom Sitz direkt vor Dinahs eigenem. Das wusste sie; den Standort von Stimmen zu bestimmen, war fester Bestandteil ihres Lebens, eine normale Tatsache der Existenz, so wie das Atmen. Der schlafende Mann würde erschrecken, wenn Dinahs ausgestreckte Finger ihn berührten, doch das kümmerte sie längst nicht mehr.
    Aber der Sitz war leer.
    Vollkommen leer.
    Dinah richtete sich wieder auf – ihre Wangen waren feucht, in ihrem Kopf pochte es ängstlich. Sie konnten nicht zusammen auf der Toilette sein, oder? Selbstverständlich nicht.
    Vielleicht gab es zwei Toiletten. In so einem großen Flugzeug musste es zwei Toiletten geben.
    Aber auch das spielte keine Rolle. Tante Vicky hätte ihre Handtasche nicht zurückgelassen, was auch passieren mochte. Dinah war ganz sicher.
    Sie ging langsam weiter, blieb an jeder Sitzreihe stehen und griff auf die beiden erste Sitze, erst steuerbord, dann backbord.
    Sie ertastete noch eine Handtasche auf einem, einen Aktenkoffer auf einem anderen, auf einem dritten Kugelschreiber und Block. Auf zwei anderen Sitzen spürte sie Kopfhörer. Am Ohrstück des zweiten berührte sie etwas Klebriges. Sie rieb die Finger aneinander, dann verzog sie das Gesicht und wischte sie an der Hülle ab, mit der die Rückenlehne des Sitzes am Kopfende überzogen war. Das war Ohrenschmalz gewesen. Sie war ganz sicher. Es hatte die typische Igittigitt-Beschaffenheit.
    Dinah Bellman tastete sich langsam den Mittelgang entlang und machte sich nicht mehr die Mühe, ihre Nachforschungen behutsam durchzuführen. Es war nicht wichtig. Sie stach in kein Auge, kniff in keine Wange, zog niemanden am Haar.
    Jeder Sitz, den sie untersuchte, war leer.
    Das kann nicht sein, dachte sie panisch. Es kann einfach nicht sein! Sie waren überall, als wir eingestiegen sind! Ich habe sie gehört! Ich habe sie gespürt! Ich habe sie gerochen! Wo sind sie alle hin?
    Sie wusste es nicht, aber sie waren weg; dessen war sie sich zunehmend sicher.
    Während sie geschlafen hatte, waren ihre Tante und alle anderen an Bord von Flug Nr. 29 verschwunden.
    Nein! polterte der rationale Teil ihres Verstandes mit der Stimme von Miss Lee. Nein, das ist unmöglich, Dinah! Wenn alle fort sind, wer fliegt dann das Flugzeug?
    Sie ging jetzt schneller weiter, ihre Hände umklammerten Sitze, ihre blinden Augen hinter der dunklen Brille waren weit offen, der Saum ihres rosa Reisekleids flatterte. Sie hatte vergessen mitzuzählen, aber in dem größeren Unbehagen angesichts des anhaltenden Schweigens kümmerte sie das nicht sehr.
    Sie blieb wieder stehen und griff mit tastenden Händen auf den Sitz rechts

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