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Langoliers

Titel: Langoliers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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seines Verstandes, dass man außerordentlich vorsichtig sein musste, wenn man es mit einem Angehörigen vom Stamm der Irren zu tun hatte. Auf sie eingehen? Ja. Aber dieser Mann schien keine Waffe bei sich zu haben, und Mort war mindestens zwanzig Kilo schwerer als er. Und wie es aussieht, bin ich obendrein rund fünfzehn Jahre im Vorteil, dachte er. Er hatte einmal gelesen, dass ein Wahnsinniger ungeahnte Kräfte mobilisieren konnte, aber der Teufel sollte ihn holen, wenn er einfach hier stehen bleiben und sich anhören wollte, wie dieser Mann, den er noch nie gesehen hatte, dastand und behauptete, dass er, Morton Rainey, seine Geschichte gestohlen hatte. Nicht ohne eine Art Revanche.
    »Ich mache Ihnen keine Vorwürfe, dass Ihnen das nicht gefällt«, sagte der Mann mit dem schwarzen Hut. Er sprach auf dieselbe geduldige und ernste Weise. Er sprach, dachte Mort, wie ein Therapeut, dessen Aufgabe es ist, kleinen, leicht zurückgebliebenen Kindern etwas beizubringen. »Aber Sie haben es getan. Sie haben meine Geschichte gestohlen.«
    »Sie müssen jetzt gehen«, sagte Mort. Er war jetzt hellwach und fühlte sich nicht mehr so bestürzt, nicht mehr so im Hintertreffen. »Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«
    »Ja, ich gehe«, sagte der Mann. »Wir sprechen später weiter.« Er hielt das Manuskript hoch, und Mort musste feststellen, dass er tatsächlich danach griff. Er ließ die Hand wieder sinken, ehe sein ungebetener und ungewollter Gast das Manuskript hineindrücken konnte, wie ein Gerichtsdiener, der einem Mann endlich eine Vorladung in die Hand drücken kann, nachdem sich dieser monatelang entzogen hat.
    »Ich nehme das nicht«, sagte Mort, während ein Teil von ihm staunte, was der Mensch doch für ein Gewohnheitstier war. Wenn einem jemand etwas hinhielt, war der erste Reflex, es zu nehmen. Einerlei, ob es sich um einen Scheck über tausend Dollar oder eine Dynamitstange mit brennender Zündschnur handelte, der erste Reflex war, es zu nehmen.
    »Es wird Ihnen nichts nützen, Spielchen mit mir zu spielen, Mr. Rainey«, sagte der Mann gelassen. »Diese Sache muss aus der Welt geschafft werden.«
    »Was mich betrifft, ist sie es«, sagte Mort und schlug die Tür vor diesem zerfurchten, verbrauchten und irgendwie zeitlosen Gesicht zu.
    Er hatte nur einen oder zwei Augenblicke Angst empfunden, als ihm erstmals und in einer desorientierten, vom Schlaf umwölkten Weise klar geworden war, was dieser Mann sagte. Dann war sie Zorn gewichen – Zorn, weil er während seines Mittagsschläfchens gestört worden war, und noch mehr Zorn angesichts der Erkenntnis, dass ihn ein Mitglied des Stammes der Irren störte.
    Als er jetzt die Tür zugeschlagen hatte, kam die Angst zurück. Er presste die Lippen zusammen und wartete darauf, dass der Mann anfangen würde dagegen zu hämmern. Als das nicht geschah, war er überzeugt, dass der Mann einfach draußen stand, reglos wie ein Stein und ebenso geduldig, und darauf wartete, bis er die Tür wieder aufmachte … was er einmal machen musste, früher oder später.
    Dann hörte er ein leises Pochen, gefolgt von mehreren leichten Schritten auf den Verandadielen. Mort ging ins Schlafzimmer, von wo man die Einfahrt überblicken konnte. Dort befanden sich zwei große Fenster; durch eins sah man die Einfahrt und den daran angrenzenden Hang, das andere bot Ausblick auf den Hang, der zur blauen, wunderschönen Fläche des Tashmore Lake abfiel. Beide Fenster waren verspiegelt, was bedeutete, er konnte hinaussehen, aber wenn jemand versuchte hereinzuschauen, würde er nur sein eigenes verzerrtes Spiegelbild sehen, wenn er nicht gerade die Nase an die Scheibe drückte und die Hände an die Augen hielt.
    Er sah den Mann im Baumwollhemd und den umgeschlagenen blauen Jeans zu seinem alten Kombi zurückgehen. Aus diesem Winkel konnte er die Herkunft des Nummernschilds erkennen - Mississippi. Als der Mann die Fahrertür aufmachte, dachte Mort: Ach du Scheiße, die Waffe ist im Auto. Er hatte sie nicht bei sich, weil er gedacht hat, er könnte vernünftig mit mir reden … was immer seine Vorstellung von ›Vernunft‹ sein mag. Aber jetzt wird er sie holen und wiederkommen. Wahrscheinlich ist sie im Handschuhfach oder unter dem Sitz …
    Aber der Mann setzte sich hinters Lenkrad und nahm sich gerade genug Zeit, den schwarzen Hut abzuziehen und neben sich zu werfen. Als er die Tür zuschlug und den Motor anließ, dachte Mort: Jetzt ist etwas anders an ihm. Aber erst als sein ungebetener Besucher

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