Langoliers
Neu gier, mehr nicht. Wir wohnen jetzt seit elf oder zwölf Jahren in diesem Haus, aber ich hatte vorher noch niemals genau zu diesem speziellen Fenster hinausgesehen. Der Grund dafür ist durch und durch einfach; es befindet sich auf Höhe des Bodens, wird größtenteils vom Trockner verdeckt und von Waschkörben halb verborgen; daher kann man nur schwer aus diesem Fenster sehen.
Ich habe mich trotzdem gebückt und hinausgesehen. Von diesem Fenster überblickt man eine kleine kopfsteingepflasterte Nische zwischen dem Haus und der Sonnenveranda. Es ist ein Stück, das ich jeden Tag sehe … aber der Blickwinkel war neu. Meine Frau hatte ein halbes Dutzend Töpfe dort hinausgestellt damit die Pflanzen ein wenig von der Novembersonne abbekommen, vermute ich, und das Ergebnis war ein bezaubernder kleiner Garten, den nur ich sehen konnte. Der Ausdruck, der mir eingefallen ist ist natürlich der Titel dieser Geschichte. Er schien mir eine gute Metapher für das zu sein, was Schriftsteller – speziell Verfasser von fantastischer Literatur – mit ihren Tagen und Nächten anfangen. Sich an die Schreibmaschine zu setzen oder einen Kugelschreiber in die Hand zu nehmen, das ist das körperliche Tun; das geistige Analogon dazu ist es, zu einem halb vergessenen Fenster hinauszusehen, einem Fenster, das eine altbekannte Aussicht aus einem völlig neuen Blickwinkel zeigt … einem Blickwinkel, der das Gewöhnliche außergewöhnlich macht. Aufgabe des Schriftstellers ist es, durch dieses Fenster zu sehen und zu berichten, was er dort sieht.
Aber manchmal zerbrechen Fenster. Ich glaube, mehr als alles andere ist das Thema dieser Geschichte: Was wird aus dem staunenden Beobachter, wenn das Fenster zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen zerschellt und die Scherben fliegen?
1
»Sie haben meine Geschichte gestohlen«, sagte der Mann auf der Schwelle. »Sie haben meine Geschichte gestohlen, und dagegen muss etwas getan werden. Recht ist recht, und fair ist fair, und es muss etwas getan werden.«
Morton Rainey, der gerade von einem Nickerchen aufgestanden war und sich immer noch nur halb in der wirklichen Welt fühlte, hatte nicht die leiseste Ahnung, was er sagen sollte.
Wenn er arbeitete, war das nie der Fall, ob krank oder gesund, hellwach oder im Halbschlaf; er war Schriftsteller und kaum je in Verlegenheit, wenn es darum ging, einer seiner Figuren eine geistreiche Erwiderung in den Mund zu legen. Rainey machte den Mund auf, fand keine geistreiche Erwiderung (tatsächlich nicht einmal eine geistlose), und daher machte er ihn wieder zu. Er dachte: Dieser Mann sieht irgendwie nicht ganz echt aus. Er sieht aus wie eine Romanfigur von William Faulkner.
Das trug zwar nicht dazu bei, die Situation zu klären, stimmte aber unbestreitbar. Der Mann, der hier draußen, in der West-Maine-Version des Nirgendwo, an seiner Tür geklingelt hatte, schien Mitte Vierzig zu sein. Er war sehr mager. Sein Gesicht war ruhig, fast abgeklärt, aber von tiefen Furchen durchzogen. Sie zogen sich als gleichmäßige Wellen horizontal über die hohe Stirn, verliefen vertikal von den Enden der dünnen Lippen bis zum Kiefer und strahlten als winzige Büschel aus den Augenwinkeln ab. Die Augen waren strahlend, unverblaßt blau. Rainey konnte nicht sagen, was der Mann für eine Haarfarbe hatte, er trug einen großen schwarzen Hut. Die Unterseite der Krempe berührte die Spitzen der Ohren. Der Hut sah wie die aus, die von den Quäkern getragen werden. Der Mann hatte auch keine Koteletten und hätte unter dem runden Filzhut so kahl wie Telly Savalas sein können.
Er trug ein blaues Baumwollhemd. Es war ordentlich bis zum faltigen, vom Rasiermesser geröteten Fleisch seines Halses geknöpft, obwohl er keine Krawatte trug. Der untere Saum des Hemdes verschwand in einem Paar Bluejeans, die etwas zu groß für den Mann aussahen, der sie trug. Sie hörten mit Aufschlägen auf welche fein säuberlich auf gelben Arbeitsschuhen aufstanden die dazu gemacht schienen, etwa dreieinhalb Schritt hinter einem Maultierarsch durch eine Furche gepflügten Erdbodens zu laufen.
»Nun?« sagte er schließlich, da Rainey immer noch schwieg.
»Ich kenne Sie nicht«, sagte Rainey schließlich. Es waren seine ersten Worte, seit er vom Sofa aufgestanden war und zur Tür gekommen war, nachdem die Glocke ertönte, und er fand selbst, dass es sich ausgesprochen dumm anhörte.
»Das weiß ich«, sagte der Mann. »Und das spielt keine Rolle. Ich kenne Sie, Mr. Rainey. Das
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