Langoliers
Kopfschmerzen, besonders wenn ich in der Stadt fahren muss, denn dort lassen sie sämtliche Irren auf die Straße –, daher nahm ich den Bus. Ich wollte gerade einsteigen, als mir einfiel, dass ich gar nichts zu lesen mitgebracht hatte. Ich hasse lange Busfahrten, ohne etwas zu lesen.«
Mort nickte unwillkürlich. Auch er verabscheute Fahrten -Bus, Zug, Flugzeug oder Auto – ohne etwas zu lesen, etwas Substantielleres als die Tageszeitung.
»Es gibt keinen Busbahnhof in Perkinsburg – der Greyhound hält einfach fünf Minuten vor dem Rexall, und dann geht’s wieder auf die Straße. Ich war schon im ’hound drinnen und wollte die Treppe raufgehen, als ich merkte, dass ich mit leeren Händen da war. Ich fragte den Busfahrer, ob er auf mich warten würde, worauf er sagte, einen Scheißdreck würde er, er wäre ohnehin schon zu spät dran und würde in drei Minuten losfahren, laut seiner Taschenuhr. Wenn ich mitfuhr, wäre ihm das recht, und wenn nicht, könnte ich ihn im Arsch lecken, wenn wir uns wieder einmal begegnen.«
Er REDET wie ein Geschichtenerzähler, dachte Mort. Der Teufel soll mich holen, wenn nicht. Er versuchte, diesen Gedanken zu verwerfen – es schien keine gute Denkweise zu sein –, konnte es aber nicht ganz.
»Nun, ich lief in den Drugstore. Sie haben so ein altmodisches Taschenbuchgestell aus Draht im Rexall von Perkinsburg, so eins, das sich im Kreis drehen lässt, genau wie in dem kleinen Kramladen in Ihrer Straße.«
»Deekin’s?«
Shooter nickte. »Genau der. Wie auch immer, ich nahm das erste Buch, das ich in die Hände bekam. Es hätte eine Taschenbuchbibel sein können, ich habe mir den Umschlag überhaupt nicht angesehen. Aber das war es nicht. Es war Ihre Kurzgeschichtensammlung. Jeder gibt den Löffel ab. Und soweit ich sagen kann, sind es Ihre Kurzgeschichten. Alle – bis auf eine.«
Mach jetzt ein Ende. Er hat jede Menge Dampf aufgestaut, darum solltest du den Boiler augenblicklich abschalten.
Aber er stellte fest, dass er das nicht wollte. Vielleicht war Shooter Schriftsteller. Er erfüllte die beiden Grundvoraussetzungen: Er erzählte eine Geschichte, die man hören wollte, bis zum Schluss, auch wenn man sich gut vorstellen konnte, wie dieser Schluss aussehen würde, und er war so voller Scheiße, dass er quietschte.
Statt zu sagen, was er hätte sagen sollen – selbst wenn Shooter, was unvorstellbar war, die Wahrheit sagte, hatte er, Mort, ihn mit der elenden Geschichte um zwei Jahre geschlagen –, sagte er: »Sie haben also ›Zeit zu säen‹ im Greyhound-Bus gelesen, während Sie vergangenen Juni nach Jackson gefahren sind, um Ihre Farm zu verkaufen.«
»Nein. Wie es sich ergab, habe ich sie auf dem Rückweg gelesen. Ich habe die Farm verkauft und bin mit einem Scheck über sechzigtausend Dollar in der Tasche mit dem Greyhound zurückgefahren. Die ersten sechs Geschichten habe ich auf der Hinfahrt gelesen. Ich hielt sie nicht für besonders toll, aber sie haben mir die Zeit vertrieben.«
»Danke.«
Shooter sah ihn kurz an. »Eigentlich wollte ich Ihnen kein Kompliment machen.«
»Als ob ich das nicht wüsste.«
Darüber dachte Shooter einen Augenblick nach, dann zuckte er die Achseln. »Wie dem auch sei, ich habe auf der Rückfahrt noch zwei gelesen … und dann diejenige. Meine Geschichte.«
Er sah wieder zu der Wolke, die jetzt eine leuchtende Masse luftigen Goldes war, und dann zu Mort. Sein Gesicht war so gleichgültig wie zuvor, aber plötzlich wurde Mort klar, dass er sich in der Annahme geirrt hatte, dieser Mann wäre auch nur im mindesten friedfertig oder gelassen. Was er dafür gehalten hatte, war der Mantel eiserner Selbstbeherrschung, den sich Shooter umgelegt hatte, damit er Morton Rainey nicht mit bloßen Händen erwürgte. Das Gesicht war ausdruckslos, aber in den blauen Augen blitzte die tiefste, zügelloseste Wut, die Mort jemals gesehen hatte. Ihm wurde klar, er konnte durchaus hier von der Hand dieses Fremden sterben. Dies war ein Mann, der – in jedem Sinne des Wortes – verrückt genug war zu töten.
»Es überrascht mich, dass Sie vorher noch nie jemand auf diese Kurzgeschichte angesprochen hat«, sagte Shooter mit seiner gelassenen Stimme, die Mort jetzt als Stimme eines Mannes erkannte, der sich mit aller Macht zurückhält, nicht zu schlagen, zu prügeln, möglicherweise sogar zu würgen; die Stimme eines Mannes, der genau weiß, es reicht aus, ihn über die Trennlinie zwischen Reden und Töten zu stoßen, wenn er nur hört, wie
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