Langoliers
sieben.«
»Weil ich es nicht gewusst habe«, sagte Shooter. Er wandte den Blick von der Wolke ab und maß Mort mit diesem beunruhigenden Blick gelinder Verachtung. »Ich nehme an, ein Mann wie Sie geht davon aus, dass jeder in Amerika, wenn nicht jeder in jedem Land, wo seine Bücher veröffentlicht werden, liest, was er geschrieben hat.«
»Ich glaube, das weiß ich besser«, sagte Mort, und nun war es an ihm, trocken zu sein.
»Aber das stimmt nicht«, fuhr Shooter fort und achtete auf seine beängstigend gelassene und vollkommen fixierte Art überhaupt nicht darauf, was Mort gesagt hatte. »Das stimmt überhaupt nicht. Ich habe diese Geschichte erst Mitte Juni gesehen. Diesen Juni.«
Mort überlegte sich, ob er sagen sollte: Da haben wir etwas gemeinsam, Johnnymein-Junge! Ich habe meine Frau auch erst Mitte Juni mit einem anderen im Bett gesehen! Würde es Shooter aus der Fassung bringen, wenn er so etwas tatsächlich laut sagte?
Er sah dem Mann ins Gesicht und kam zum Ergebnis, dass dies nicht der Fall war. Die Gleichgültigkeit war aus diesen verblassten Augen verschwunden wie Nebel aus den Bergen an einem Tag, der echt heiß zu werden verspricht. Jetzt sah Shooter aus wie ein Fundamentalistenprediger, der im Begriff ist, eine große Portion Feuer und Schwefel auf die gesenkten Köpfe seiner Gemeinde regnen zu lassen, und zum ersten Mal hatte Mort Rainey tatsächlich Angst vor dem Mann. Aber er war auch wütend. Der Gedanke, den er am Ende seiner ersten Begegnung mit ›John Shooter‹ gehabt hatte, kam ihm wieder: Angst oder nicht, der Teufel sollte ihn holen, wenn er einfach hier stehen blieb und es hinnahm, wie dieser Mann ihn des Diebstahls bezichtigte – zumal der Mann mittlerweile selbst zugegeben hatte, wie falsch dieser Vorwurf war.
»Lassen Sie mich raten«, sagte Mort. »Jemand wie Sie ist ein wenig zu wählerisch, was er liest um sich mit der Art Schund zu befassen, die ich schreibe. Sie halten sich mehr an Leute wie Marcel Proust oder Thomas Hardy, richtig? Nachts, wenn die Kühe gemolken sind, zünden Sie sich gerne eine ihrer waschechten Bauernpetroleumlampen an, stellen Sie auf den Tisch, auf dem selbstverständlich ein rot-weiß kariertes Tischtuch liegt, und führen sich ein wenig Tess oder Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zu Gemüte. Am Wochenende lassen Sie dann vielleicht locker, werden ein wenig übermütig und ziehen etwas von Erskine Caldwell oder Annie Dillard aus dem Regal. Jemand anders hat Sie darauf aufmerksam gemacht, wie ich Ihre aufrichtig verfasste Geschichte kopiert habe. Hat sich die Geschichte nicht so zugetragen, Mr. Shooter … oder wie immer Ihr Name lauten mag?«
Seine Stimme hatte einen rauen Klang angenommen, und er stellte überrascht fest, dass er sich am Rand eines echten Wutausbruchs befand. Aber, stellte er fest, nicht völlig überrascht.
»Nee. Ich habe keine Freunde.« Shooter sprach im nüchternen Tonfall eines Mannes, der lediglich eine Tatsache von sich gibt. »Keine Freunde, keine Familie, keine Frau. Ich habe ein kleines Haus etwa zwanzig Meilen südlich von Perkinsburg, und ich habe tatsächlich ein rot-weiß kariertes Tischtuch auf dem Tisch, aber wir haben elektrisches Licht in der Stadt. Die Petroleumlampen hole ich nur heraus, wenn Sturm ist und der Strom ausfällt.«
»Schön für Sie«, sagte Mort.
Shooter achtete nicht auf den Sarkasmus. »Ich habe die Farm von meinem Vater geerbt und mit dem bisschen Geld meiner Großmutter etwas dazugekauft. Ich habe eine Herde, etwa zwanzig Milchkühe, auch damit haben Sie recht gehabt, und abends schreibe ich Geschichten. Ich nehme an, Sie haben eine Schreibmaschine, vielleicht sogar einen teuren Computer mit Bildschirm, aber ich muss mich mit Füller und Notizbuch begnügen. Jenen mit weißen Seiten und blauen Linien.«
Er verstummte, und einen Augenblick konnten sie beide das Rascheln der Blätter im leichten Spätnachmittags wind hören.
»Was nun die Tatsache betrifft, dass Ihre Geschichte dieselbe wie meine ist, das habe ich ganz alleine herausgefunden. Sehen Sie, ich habe mir überlegt, die Farm zu verkaufen. Ich dachte mir, mit dem bisschen Geld könnte ich tagsüber schreiben, wenn meine Gedanken noch frisch sind, und nicht nur nach Einbruch der Dunkelheit. Der Makler in Perkinsburg wollte, dass ich mich mit einem Mann aus Jackson treffe, dem eine Menge Milchfarmen in Mississippi gehören. Ich fahre nicht gern mehr als zehn oder fünfzehn Meilen am Stück – davon bekomme ich
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