Langoliers
hatte auch die alte Geschichte gehört: Wenn vierhundert Affen vierhundert Jahre lang auf vierhundert Schreibmaschinen herumhackten, würde einer einmal das Gesamtwerk von Shakespeare hervorbringen. Das glaubte er nicht. Und selbst wenn es stimmte, John Shooter war kein Affe und er lebte noch nicht annähernd so lange, wie runzlig sein Gesicht auch sein mochte.
Shooter hatte also seine Geschichte abgeschrieben. Warum er sich ausgerechnet ›Zeit zu säen‹ ausgesucht hatte, überstieg Mort Raineys Begriffsvermögen, aber er wusste, dass genau das passiert war, denn um Zufall handelte es sich nicht, das war ausgeschlossen; und er wusste verdammt gut, er hatte die Geschichte, wie alle anderen, möglicherweise aus der großen Einfälle-Bank des Universums gestohlen, aber ganz sicher nicht von Mr. John Shooter aus dem großen Bundesstaat Mississippi.
Aber wo hatte Shooter sie abgeschrieben? Mort fand, dass das die wichtigste Frage war, denn seine Chance, Shooter als Lügner und Plagiator zu entlarven, konnte genau dort liegen.
Es gab nur zwei mögliche Antworten, denn ›Zeit zu säen‹ war nur zweimal veröffentlicht worden – erstmals in Ellen/ Queens Kriminalmagazin und dann in seiner Kurzgeschichtensammlung Jeder gibt den Löffel ab. Die Erstveröffentlichungen von Kurzgeschichten werden normalerweise auf der Impressums-Seite genannt, an diese Regel hatten sie sich auch bei Jeder gibt den Löffel ab gehalten. Er hatte im Impressum nach ›Zeit zu säen‹ gesucht und festgestellt, dass es im Juniheft des Jahres 1980 von EQKM veröffentlicht worden war. Die Sammlung Jeder gibt den Löffel ab hatte St. Martin’s Press 1983 herausgebracht. Danach hatte es Neuausgaben gegeben – alle bis auf eine im Taschenbuch –, aber das spielte eigentlich keine Rolle. Er musste nur mit diesen beiden Jahreszahlen arbeiten, 1980 und 1983 … und seiner eigenen hoffnungsvollen Überzeugung, dass außer Agenten und Anwälten der Verlage niemand diesen kleingedruckten Zeilen im Impressum nennenswerte Aufmerksamkeit schenkte.
Mit der Hoffnung, dass dies auch auf John Shooter zutreffen würde, dass Shooter einfach annahm – wie die meisten Leser –, die Geschichte, die er zum ersten Mal in einer Kurzgeschichtensammlung gelesen hatte, habe keine vorherige Existenz, näherte sich Mort dem Mann und stand ihm schließlich am Straßenrand gegenüber.
10
»Ich denke, Sie haben inzwischen die Möglichkeit gehabt, meine Geschichte zu lesen«, sagte Shooter. Er sprach so beiläufig wie ein Mann, der eine Bemerkung über das Wetter macht.
»Habe ich.«
Shooter nickte ernst. »Ich nehme an, Sie hat Erinnerungen wachgerufen, richtig?«
»Kann man wohl sagen«, stimmte Mort zu, und dann, einstudiert nebensächlich: »Wann haben Sie sie geschrieben?«
»Ich dachte mir, dass Sie das fragen würden«, sagte Shooter. Er lächelte ein geheimnisvolles kleines Lächeln, sagte aber nichts mehr. Er hielt die Arme vor der Brust verschränkt und die Hände dicht unter den Achselhöhlen an den Seiten. Er sah aus wie ein Mann, der damit zufrieden sein würde, für alle Zeiten zu bleiben, wo er war, oder zumindest bis die Sonne hinter dem Horizont versunken war und ihm nicht mehr das Gesicht wärmte.
»Aber sicher«, sagte Mort immer noch nebensächlich. »Wissen Sie, das muss ich. Wenn zwei Burschen mit derselben Geschichte aufkreuzen, ist das etwas Ernstes.«
»Etwas Ernstes«, stimmte Shooter mit nachdenklich-meditativer Stimme fort.
»Und so eine Sache kann man nur klären«, fuhr Mort fort, »entscheiden, wer von wem abgeschrieben hat, wenn man herausfindet, wer die Worte als erster geschrieben hat.« Er sah mit einem unnachgiebigen Blick in Shooters blaue Augen. Irgendwo in der Nähe zwitscherte ein Vogel lautstark in einem Baumhain und verstummte dann. »Würden Sie dem zustimmen?«
»Ich denke ja«, stimmte Shooter zu. »Ich denke, darum bin ich den weiten Weg von Mississippi hier hergekommen.«
Mort hörte das Dröhnen eines näher kommenden Fahrzeugs. Sie wandten sich beide in diese Richtung, und Tom Greenleafs Scout kam über den nächsten Hügel und zog einen kleinen Wirbelsturm aus Blättern hinter sich her. Tom, ein rüstiger und kerngesunder Einwohner von Tashmore, über siebzig, war Hausmeister der meisten Häuser auf dieser Seite des Sees, um die sich Greg Carstairs nicht kümmerte. Er hob im Vorbeifahren grüßend eine Hand. Mort winkte zurück. Shooter nahm eine Hand von ihrer Ruhestelle und machte mit dem Finger eine
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