Langoliers
nackten Schultern. Ihre ängstlichen Augen. Er hatte geschrieen – was, daran konnte er sich nicht mehr erinnern, und er hatte nie gewagt, Amy zu fragen –, aber es musste etwas Schlimmes gewesen sein, wenn man ihren Augen glauben wollte.
Wenn ich jemals einen Nervenzusammenbruch gehabt haben sollte, dachte er und betrachtete das sinnlose Zickzackmuster des Sprungs, dann in diesem Augenblick. Verdammt, der Brief von Aspen Quarterly war gar nichts verglichen damit, diese Moteltür aufzumachen und seine Frau mit einem anderen Mann im Bett zu sehen, einem aalglatten Grundstücksmakler aus einem kleinen Scheißkaff in Tennessee …
Mort machte die Augen zu, und als er sie wieder aufmachte, tat er es nur, weil eine andere Stimme lärmte. Diese Stimme gehörte dem Wecker. Der Nebel hatte sich verzogen, die Sonne war herausgekommen, und es war Zeit, zur Post zu gehen.
43
Unterwegs war er plötzlich überzeugt, dass der Mann vom Federal Express gekommen und wieder gegangen war … und Juliet würde am Fenster stehen, mit ihrem leeren Gesicht heraussehen, den Kopf schütteln und ihm sagen, dass nichts für ihn dabei gewesen war, sorry. Und sein Beweis? Fort wie Rauch. Das war ein irrationales Gefühl – Herb war ein vorsichtiger Mann, der keine Versprechen gab, die er nicht halten konnte –, aber es war so stark, dass er es nicht verdrängen konnte.
Er musste sich zwingen, aus dem Auto auszusteigen, und der Weg von der Tür des Postamts zum Schalter, wo Juliet Bradley stand und Post sortierte, schien mindestens tausend Meilen lang zu sein.
Als er dort ankam, versuchte er zu sprechen, brachte aber keinen Ton heraus. Seine Lippen bewegten sich, aber der Hals war so trocken, dass er keinen Laut erzeugen konnte. Juliet sah zu ihm auf und wich einen Schritt zurück. Sie sah erschrocken drein. Aber nicht so erschrocken wie Amy und Ted, als er die Moteltür aufgemacht und die Pistole auf sie gerichtet hatte.
»Mr. Rainey? Ist alles in Ordnung?«
Er räusperte sich.
»Entschuldigung, Juliet. Mein Hals hat mich einen Moment im Stich gelassen.«
»Sie sind sehr blass«, sagte sie, und er hörte in ihrer Stimme den Unterton so vieler Bewohner von Tashmore, wenn sie mit ihm sprachen – es war eine Art Stolz, aber mit einem Beigeschmack von Gereiztheit und Ermahnung, als wäre er ein Wunderkind, das besondere Pflege und Nahrung brauchte.
»Wahrscheinlich etwas, das ich gestern Abend gegessen habe«, sagte er. »Hat Federal Express etwas für mich dagelassen?«
»Nein, gar nichts.«
Er umklammerte die Unterseite des Schalters verzweifelt und dachte einen Augenblick, er würde ohnmächtig werden, obwohl ihm fast augenblicklich klar geworden war, dass sie das nicht gesagt hatte.
»Bitte?«
Sie hatte sich schon halb abgewandt und präsentierte ihm den breiten Landhintern, während sie ein paar Päckchen auf dem Boden durchsuchte.
»Nur das eine, habe ich gesagt«, antwortete sie, drehte sich um und schob ihm das Päckchen auf dem Tresen entgegen. Er sah, dass als Absender Herbs Büro vermerkt war und spürte, wie ihn Erleichterung durchströmte. Wie kühles Wasser, das einen trockenen Hals hinabläuft.
»Danke.«
»Gern geschehen. Wissen Sie, das Postamt würde einen Anfall bekommen, wenn sie wüssten, dass wir die Sachen des Mannes von Federal Express bearbeiten.«
»Nun, ich bin Ihnen unbedingt zu Dank verpflichtet«, sagte Mort. Jetzt, wo er das Magazin hatte, verspürte er das Bedürfnis, hier zu verschwinden, zum Haus zurückzukehren. Dieses Bedürfnis war so stark, es war beinahe übermächtig. Er wusste nicht warum – es waren noch eineinviertel Stunden bis Mittag –, aber es war da. In seinem Unbehagen und seiner Verwirrung hätte er Juliet fast ein Trinkgeld gegeben, um sie zum Schweigen zu bringen … und dann hätte sie, mit Leib und Seele Yankee, aber erst ein Gezeter angefangen.
»Sie werden es ihnen doch nicht sagen, oder?« fragte sie schnippisch.
»Auf keinen Fall«, sagte er und brachte ein Grinsen zustande.
»Gut«, sagte Juliet Bradley. »Denn ich weiß, was Sie getan haben.«
Er blieb unter der Tür stehen. »Bitte?«
»Ich habe gesagt: Denn ich mache Ihnen die Hölle heiß, wenn Sie das getan haben«, sagte sie und sah ihm eindringlich ins Gesicht. »Sie sollten heimgehen und sich hinlegen, Mr. Rainey. Sie sehen wirklich gar nicht gut aus.«
Ich fühle mich, als hätte ich die ganzen letzten drei Tage im Liegen verbracht, Juliet – das heißt, wenn ich nicht gerade Sachen zerdeppert
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