Langweiler leben länger - über die wahren Ursachen eines langen Lebens
hatte.
Die Bochumer Studie liefert eine Erklärung für das Phänomen, dass gestresste Menschen mehr als andere vom Übergewicht bedroht sind, weil sie nämlich auch dann noch Kalorienreiches verdrücken, wenn sie eigentlich schon satt sind.
Die Untersuchung belegt aber gleichsam einen viel grundlegenderen Mechanismus der menschlichen Psyche: dass wir nämlich unter Stress zum Gewohnheitstier werden. Im Fall von kalorienreichen Soft-Drinks mag dies zu Übergewicht führen, was zweifelsohne gesundheitsschädlich ist. Doch eigentlich hat dieser Mechanismus einen tiefen biologischen Sinn. Denn wer im Stress steckt, will nicht noch weiter groß nachdenken, sondern die Belastungen im Gehirn minimieren, indem er sich auf bewährte Reaktionsmuster verlässt, die keine mühsame Reflexion mehr erfordern. Nach dem Muster: besser weitermachen im gewohnten Trott, als dass man das Risiko eingeht, jenseits der eingetretenen Pfade seine Energien zu verschwenden.
Gewohnheiten helfen uns auch aus Krisen heraus. Psychotherapeuten raten ihren Patienten, die eine Trennung oder einen Trauerfall bewältigen müssen, ihre alltäglichen Rhythmen und Beschäftigungen weitgehend aufrecht zu erhalten, weil sie sonst in ein tiefes Loch fallen könnten. Auch frischgebackene Rentner und Arbeitslose profitieren davon, wenn sie zumindest teilweise so tun, als stünden sie noch im Berufsleben, dass sie also weiterhin früh aufstehen, sich jeden Morgen rasieren wie bisher und dass sie auch einen echten Feierabend haben und nicht den kompletten Tag zur Mußeeinheit transformieren.
Selbst angesichts großer Katastrophen ist es wichtig, dass man ein Mindestmaß an Routine beibehält. Unbeteiligte Beobachter waren mitunter irritiert, als sie sahen, wie schnell die Menschen in Tschernobyl und Fukushima wieder ihren alten Gewohnheiten nachgingen. Im Fall der Tsunami-Katastrophe wurden sogar besondere »Dulderfähigkeiten« des japanischen Volkes als Erklärung ins Feld geführt. Dabei gehört es zu den psychischen Merkmalen aller Menschen, sich in extremen Krisensituationen möglichst schnell wieder, so wie es sich in vielen Jahrtausenden ihrer Evolution bewährt hat, in ihren ursprünglichen Gewohnheiten einzupendeln.
Denn ein weiteres Verharren im Ausnahmezustand würde ihre Energiereserven erschöpfen, sie krank machen und dem Tode nahebringen. Außerdem bräuchten die Menschen, mahnt Ian Woolverton von der Kinderschutzorganisation Save the children »in Katastrophen möglichst schnell wieder eine Alltagsroutine, um ihre traumatischen Erlebnisse verarbeiten zu können«. Dies gelte vor allem für Kinder, aber auch für Erwachsene. Wer von ihnen erwartet, dass sie sofort mit der Zukunftsgestaltung beginnen und beispielsweise für ein Leben ohne Atomenergie kämpfen oder wenigstens die Verantwortlichen für den Super-GAU zur Rechenschaft ziehen, wird in der Regel enttäuscht. In einer schweren Krise wollen sie keine Energien für Anklagen oder das Reflektieren über die Zukunft verschwenden, sondern vielmehr Energien sparen, um die Gegenwart heil zu überstehen, und dafür verlassen sie sich auf die Ökonomie der Gewohnheit.
Gleich also, ob im normalen Alltag oder im Ausnahmezustand einer schweren Krise: Gewohnheiten, Rituale und Routine stabilisieren unser Leben, indem sie dafür sorgen, dass jeder Griff sitzt, alles seinen Platz hat und alles funktioniert wie von selbst. Das ist nicht nur effizient, sondern auch beruhigend. Doch ist es nicht vielleicht zu beruhigend, geradezu einschläfernd? Ist es nicht vielleicht gerade dieser Automatismus, der unsere Entscheidungsfreiheit erdrückt und uns die Lust an den Dingen nimmt? Wo etwa bleibt der Spaß, wenn ich drei Mal pro Woche zur gleichen Zeit – trotz Hagelschauer, Tiefkühlfrost und Orkanen! – zum Joggen ausrücke? Kann man noch Lust empfinden, wenn der Sex immer samstags nach dem TV-Abendprogramm stattfindet, weil man ja am Sonntag so schön ausschlafen kann? Können noch Urlaubsgefühle aufkommen, wenn man jedes Jahr den Sommerurlaub im feststehenden Wohnwagen in leicht erreichbarer Autobahnnähe verbringt?
Die Antwort hängt davon ab, ob man Lust davon abhängig macht, dass sie sich spontan entwickelt. Aber das ist letzten
Endes nichts anderes als Ansichts- und Charaktersache. Es gibt Menschen, die allzu viel Routine als Hamsterrad und erdrückende Freiheitsberaubung empfinden, und für solche Charaktere passen Gewohnheiten und Lust einfach nicht zusammen. Aber es gibt auch Menschen, die
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