Langweiler leben länger - über die wahren Ursachen eines langen Lebens
nur dann locker genug zum Empfinden von Lust und Vergnügen werden, wenn ihnen Gewohnheiten und Rituale das Denken abnehmen. Im ersten Fall sorgt Spontaneität für die notwendige Spannung, im zweiten Fall sorgt Routine für die notwendige Ent spannung, um Lust empfinden zu können. Ob man das Eine oder das Andere mehr braucht, das hängt ab vom jeweiligen Individuum und seiner Moral und Lebensgestaltung. Die Vertreter der libertär-spontanen Alternative sollten allerdings bedenken, dass sie vermutlich früher sterben werden als die Gewohnheitstiere. Denn im Hin und Her der Kicks des Augenblicks verläuft das Leben kürzer als im Gleichlauf der Berechenbarkeit.
Besser neurotisch als Geburtstag feiern: Die Kunst des moderaten Zwangs
Rituale und Gewohnheiten sind an sich lebensverlängernd, doch auch bei ihnen muss man die Dosis im Auge haben. Zünftige Geburtstagsfeiern etwa sollte man laut einer Studie der Universität Zürich nicht feiern, wenn man alt werden will. Die Schweizer Forscher haben die Sterbedaten von über zwei Millionen Menschen ausgewertet und dabei festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit für das eigene Ableben am Geburtstag um 14 Prozent, bei Frauen über 60 Jahre sogar um fast 20 Prozent höher ist als an jedem anderen Tag. Haupttodesursachen sind Infarkte, Schlaganfälle, Stürze – und Selbstmord, den die Geburtstagskinder mit 35 Prozent erhöhter Wahrscheinlichkeit begehen. Infarkte und Schlaganfälle könnte man mit dem
Stress und die Unfälle mit dem Alkoholkonsum bei der Feier erklären, während man die erhöhte Suizidrate darauf zurückführen könnte, dass den Menschen am Geburtstag schlagartig und depressionsfördernd bewusst wird, dass sie auf Alter und Siechtum zurasen. Warum allerdings gerade ältere Frauen an ihren Geburtstagen das Zeitliche segnen, kann man sich nicht so recht erklären. Denn eigentlich trinken sie auf Feiern weniger als Männer, und unter dem fortschreitenden Alter leiden beide Geschlechter in gleichem Maße. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass man Geburtstage generell nicht ins Bewusstsein rufen und schon gar nicht feiern sollte. Denn sie erhöhen dann das Risiko, dass es nach ihnen keinen Geburtstag mehr gibt.
Aber nicht nur feierliche Rituale sind gefährlich. Bei alltäglichen Gewohnheiten muss man darauf achten, dass sie nicht in die Zwangsneurose abgleiten. Denn zwischen diesen beiden Polen gibt es keine qualitativen, sondern nur graduelle Unterschiede. So sagte schon Sigmund Freud: »Zu Zwangshandlungen im weiteren Sinne können alle beliebigen Tätigkeiten werden, wenn sie durch kleine Zutaten verziert, durch Pausen und Wiederholungen rhythmisiert werden. Eine scharfe Abgrenzung des Zeremoniells von den Zwangshandlungen wird man zu finden nicht erwarten.«
Die Grenze zwischen Ritual und Zwang ist also unscharf, aber es gibt sie. Wer beispielsweise jeden Tag vor dem Gang zur Arbeit durch seine Wohnung geht, um alle Wasserhähne und stromgespeisten Geräte zu kontrollieren, mag zwar nach außen wirken, als hätte ihn die Neurose bereits eingefangen, doch noch ist es nicht so weit, weil ja seine Handlung prinzipiell einen Sinn hat – denn es könnte ja tatsächlich sein, dass noch eine Dusche tropft oder die Kaffemaschine leise vor sich hinbrutzelt. Wenn er dann aber seinen Gang noch einmal oder sogar mehrmals wiederholt, ist er gen Zwangsneurose abgedriftet, weil diese zusätzlichen Gänge keinen Sinn mehr haben und nur noch Aufwand bedeuten. Dass wir uns waschen, frische Luft in die Zimmer lassen und uns Gedanken
machen über den nächsten Tag, ist nicht zwangsneurotisch, sondern pragmatisch. Wenn wir uns hingegen nach jedem Kontakt mit einem Menschen oder einem von anderen Menschen berührten Gegenstand waschen oder vor lauter Sorge um Morgen keinen Blick mehr für das Heute haben, ist es genau umgekehrt. Man könnte auch sagen: Das Ritual ist rational, während die Zwangsneurose irrational ist. Letzteres hat keinen Sinn und macht alltägliche Abläufe zu einer zeitaufwändigen und kaum lösbaren Tortur – und steht damit im direkten Kontrast zur Routine, deren Sinn ja das Vereinfachen alltäglicher Abläufe ist.
Bleibt die Frage, bis zu welchem Grad routinierte Handlungen noch förderlich für das Leben sind und ab wann sie dies in einen Käfig voller Zwänge sperren. Eine präzise Antwort ist hier kaum möglich. Denn es gibt Menschen, die unter den strikten Vorschriften von Klöstern oder militärischen Einrichtungen aufblühen, während
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