Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lanzarote

Lanzarote

Titel: Lanzarote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
Vom Netzwerk:
verschaffen«, murmelte der Korrespondent von Paris-Match. Und wirklich, in den Stunden nach Veröffentlichung der Dis kussion trafen auf der Internet-Site der Sekte große Mengen von Anfragen ein. Leboeuf hatte auf breiter Front gewonnen -umso mehr, als er persönlich über jeden Verdacht erhaben war. Für einen Guru führte er sogar ein außergewöhnlich geordnetes und friedliches Familienleben. Das Innenminis terium konnte in den Folgetagen allen Aufforderungen, die Sekte zu verbieten, nur seine Nichtzuständigkeit entgegenhal ten. Es handelte sich hier um strafrechtliche Verfolgungen von Einzelpersonen, die jede für sich zur Verantwortung gezogen werden sollten;
    ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession konnte ein inhaltliches Detail sein, aber keinesfalls einen Anklage grund liefern.
    Die Ermittlungen fuhren fort. Sie waren dann auch rasch be endet, da niemand die inkriminierten Handlungen leugnete, und der Prozess wurde unmittelbar darauf eröffnet. Gemein sam mit rund fünfzehn anderen Sektenmitgliedern saß Rudi auf der Anklagebank im Brüsseler Justizpalast. Alle mussten mehrjährige Gefängnisstrafen gewärtigen, aber das schien sie kaum zu betreffen. Rudi wirkte heiter, fast zufrieden. Ich sah auf den Fotos, dass er jetzt eine dicke Brille mit rechte ckigem, schwarzem Gestell trug; keine besonders vernünftige Wahl. Mit seinem Bauch, dem Schnurrbart und dieser dicken Brille entsprach er mehr als alle anderen dem klassischen Bild vom perversen Pädophilen. Die öffentliche Meinung war ent schieden gegen die Angeklagten, fast täglich fanden vor dem Justizpalast Demonstrationen statt. Wie jedesmal wurde der Ruf nach der Todesstrafe laut. Ein Journalist trieb Aichas Vater auf, der seit mehreren Jahren von seiner Frau getrennt lebte. Er erklärte, dem, der seine Tochter entehrt habe, müssten »die Eier abgeschnitten« werden, und er sei nur zu gern bereit, das eigenhändig zu besorgen.
    Philipp Lebceuf nahm am Prozess lediglich als Zeuge teil. Man kann sich sogar fragen warum; er kannte keinen der Angeklagten persönlich. Er hatte eine dreistündige Rede vor bereitet, nach zehn Minunten schnitt ihm der vorsitzende Richter das Wort ab. Immerhin hatte er Zeit für die Mittei lung, die azraelistische Kirche wolle die sakrale Erotik, die im Okzident seit mehreren tausend Jahren verloren gegangen sei, neu begründen. Auch teilte er mit, dass in den azraelistischen Gemeinschaften Masturbationsschulen für Neuzugänge und kleine Kinder eröffnet werden sollten. Man müsse die Mastur bation, so seine Ansicht, als Grundstein eines neuen K atechis mus der Sinnlichkeit sehen. Am Ende seiner Aussage trat er zu den Angeklagten hin und wollte allen einzeln die Hand geben; die Gerichtsdiener hinderten ihn daran.
    Wohl wegen seines klischeehaften pädophilen Äußeren wurde Rudi nach den Sitzungen häufg interviewt. Er schien schon daran gewöhnt zu sein; er antwortete freundlich und zuvorkommend. War ihm bewusst, welche Strafe ihm drohte? Ja, durchaus; aber er bereute nichts. Er hatte zur Justiz seines Vaterlandes Vertrauen. Nein, ihn plagten keinerlei Gewissens bisse. »Ich habe allen, mit denen ich zu tun hatte, immer nur Gutes getan«, sagte er.
    Der Prozess zog sich in die Länge, vor allem wegen der gro ßen Zahl der zivilen Nebenkläger. Dieses Jahr buchte ich aus dem Programm Nouvelles Frontieres eine Rundreise durch Indonesien. Am 27. Januar fog ich von Paris nach Denpasar. Am Tag des Urteilsspruchs war ich nicht da.

ANHANG

    Am 1. September des Jahres 1730 zwischen neun und zehn Uhr Abends riss auf Lanzarote, an einem Ort namens Tim anfaya, unvermittelt die Erde auf. Ein riesiger Berg wuchs heran, aus seiner Spitze loderten Flammen, die erst nach neunzehn Tagen erloschen. Eine Woche später klaffte noch ein Abgrund auf, und ein Strom brodelnder Lava ergoss sich über Timanfaya, El Rodeo und einen Teil des Dorfes Mancha Blanca. Die Lava foss weiter Richtung Norden; anfangs derart schnell, dass sie wie ein kochender Wasser fall wirkte; bald aber verminderte sich die Geschwindigkeit, und sie kroch nur noch wie zähfüssige Melasse dahin. Am 9. September dann wuchs mit Donnergrollen ein weiterer Hügel empor. Unter seinem Druck bog die Lava gen Westen ab, erreichte das Ende eines langen Tals und zerstörte binnen Minutenfrist die Ortschaften Maretas und Santa Catalina. Am 11. September steigerte sich die Gewalt der Eruption noch einmal beträchtlich, und der Lavastrom foss wieder schneller, er ergoss sich

Weitere Kostenlose Bücher