Lanzarote
gesellschaftliche Position, keine Beziehung konnte mehr als sicher gelten. Wir leben in einer Zeit, in der jeder Messias, jede Apokalypse möglich wä ren. Am nächsten Morgen brachten Pam und Barbara mich zum Flughafen. Wir hatten das Therm des Kindes, das Bar bara austragen konnte, nicht mehr angesprochen; aber als wir uns direkt vor der Sicherheitskontrolle verabschiedeten, war mir, als würde sie mich besonders herzlich in die Arme schlie ßen. Pam winkte mir kurz zu, ich ging in den Flur, der zum Abfugterminal führte. Beim Start warf ich einen letzten Blick auf die Vulkanlandschaft, die dunkelrot im anbrechenden Tag unter mir lag. Wirkten die Vulkane beruhigend oder waren sie im Gegenteil eine Bedrohung? Ich hätte es nicht zu sagen vermocht; aber egal wie, sie bedeuteten die Möglichkeit einer Wiedergeburt, eines Neuanfangs. Einer Wiedergeburt durch das Feuer, dachte ich; das Flugzeug gewann Höhe. Dann be schrieb es eine Kurve auf den Ozean hinaus.
In Paris war es kalt, alles war ganz normal ungemütlich. Wa rum sich dagegen aufehnen? Jeder weiß, wie das Leben nun mal ist
und wo es hinführt. Ich musste mich wieder an den Winter ge wöhnen, der nicht aufhören wollte, und an das n. Jahrhundert, für das dasselbe zu gelten schien. Im Grunde war mir Rudis Schritt begreifich. Allerdings hatte er sich in einer Hinsicht geirrt: Man kann sehr gut leben, ohne sich etwas vom Leben zu erhoffen; das ist sogar meistens der Fall. Die meisten Leu te sitzen zu Hause herum und freuen sich, wenn das Telefon nicht läutet; tut es das doch, dann lassen sie den Anrufbeant worter laufen. Keine Nachrichten – gute Nachrichten. Die meisten Leute sind so; ich übrigens auch.
Sogar wenn man nichts vom Leben zu erhoffen hat, bleibt immer noch etwas zu befürchten. Ich stellte fest, dass es in meinem Viertel immer mehr Dealer gab. Ich beschloss, wieder einmal umzuziehen, weiter zur Nationalversammlung hin; den Leuten erzählte ich, es sei, um näher bei meiner Arbeit zu sein, aber in Wahrheit wollte ich in ein Viertel mit maximaler Bullenpräsenz. Mich von einem Arschloch auf Entzug abste chen lassen, das fehlte mir gerade noch.
Die Monate vergingen. Ich bekam ein paar Karten von Pam und Barbara und beantwortete sie; aber wir fanden keine Ge legenheit, uns wiederzusehen. Dann und wann schnitt ich aus der Zeitung Artikel über die Azraelisten aus. Eher selten ei gentlich; die Sekte verhielt sich unauffällig. Der interessanteste Artikel erschien am 13. März im Observateur mit einem Foto von einem Dutzend Männer in weißen Roben mit bestickten Stolen, in
ihrer Mitte Philippe Leboeuf alias Azrael. Sie umstanden stolz ein rührendes kleines Styropor-Modell von der zukünftigen »Wohnstatt der Außerirdischen«. Rudi war auf dem Foto nicht zu sehen. Wie dem Artikel zu entnehmen war, machte das Projekt Fortschritte; man hatte sich mit den lokalen Behörden geeinigt und konnte auf Lanzarote bauen; in den nächsten Wochen sollte es losgehen.
Am 18. Juni 2000 fand in Montreal eine Lesung und Po diumsdiskussion statt, mit der das Klonen von Menschen beworben werden sollte. Zum ersten Mal traten der Prophet Azrael und der amerikanische Genetiker Richard Seed öffent lich gemeinsam auf; sie gaben die Gründung einer Organisati on bekannt, die von jeder religiösen Zugehörigkeit unabhän gig sein sollte – Dr. Seed zum Beispiel blieb Christ, Methodist. So war zu erfahren, dass eine Investorengruppe für den Bau des künftigen Labors bereits mehrere Millionen Dollar in die Valiant Venture Limited Corporation investiert hatte. Der eben falls anwesende Schriftsteller Maurice G. Dantec berichtete in einer Lokalzeitung begeistert von dem Ereignis; dies war die erste gewichtige intellektuelle Unterstützung für dieses Pro jekt. Sofort entbrannte auf der Meinungsseite von Liberation ein aufgeregter Streit, der dann aber von den Sommerferien unterbrochen wurde.
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Der Skandal kam Ende Dezember, kurz vor Weihnachten. In Belgien war wieder ein pädophiles Netzwerk aufgefogen; diesmal waren Mitglieder der Azraelisten darin verwickelt. Pädophile, eine Sekte, das bevorstehende Weihnachtsfest: die ideale Mischung für ein großes Medientamtam. France-Sair brachte zum Auftakt auf der ersten Seite, ohne Fotos, eine lange Litanei von Vomamen, von Aicha (n Jahre) bis William (9 Jahre), darüber, gelb unterlegt, in großen Lettern: ZU SEX SKLAVEN DRESSIERT. Die Zeitschrift Detective wollte die Hauptingredienzien in einer Formel zusammenbringen und
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