Lanzarote
Worten. Die azraelistische Religion bietet nun eine radikalneue Ant wort, denn sie will jedem schon jetzt, in diesem Erdenleben, eine Teilhabe an der körperlichen Unsterblichkeit ermögli chen. Praktisch heißt das, dass bei jedem neuen Mitglied ei ne Hautprobe entnommen und diese dann bei sehr niedriger Temperatur konserviert wird, Man unterhält regelmäßige Kontakte mit den Biotechnologie-Firmen, deren Forschun gen zum Klonen von Menschen am weitesten fortgeschritten sind. Die besten Spezialisten sind der Ansicht, dass die prak tische Realisierbarkeit des Projektes nur mehr eine Frage von Jahren ist. Azrael gebt aber noch weiter, er bietet uns die Un sterblichkeit der Gedanken und Erinnerungen durch Über tragung des Gedächtnisses auf einen Datenträger, von dem aus sie wiederum dem neuen Klon injiziert werden sollen. Ich weiß, diese Vorstellung klingt nun wirklich nach Science fction, und im Augenblick weiß man tatsächlich noch nicht, wie das technisch bewerkstelligt werden soll.
Egal wie, Ich empfnde es seltsam, eine Organisation als »Sekte« zu verdammen, die derart innovative und technisch orientierte Lösungen für einen Problemkomplex bereithält, den die altbergebrachten Religionen sehr viel irrationaler und metaphorischer behandeln. Der Schwachpunkt liegt natürlich in der Existenz der Anakim, jener Außerirdischen, die vor einigen Millionen Jahren das Leben auf der Erde ge schaffen haben sollen. Aber abgeseben davon, dass an dieser Hypothese nichts Absurdes ist, haben sich menschliche Ge meinschaften schon immer nur schwer ohne Bezug auf ein höheres Prinzip organisieren können.
Auch fnanziell gesehen ist der Vorwurf, die Azraelisten seien eine »Sekte«, nicht aufrechtzuerhalten. Jedes Mitglied über weist der Gemeinschaft 20% seiner Einkünfte, nicht mehr und nicht weniger. Wenn es freilich beschließt, seine Woh nung aufzugeben und in eine kollektive Einrichtung um zuziehen, kann der Beitrag höher ausfallen. Ich für meinen Teil werde genau das tun. Mein Haus interessiert mich nicht mehr; seit meine Frau und meine Tochter fort sind, fühle ich mich dort nicht mehr zu Hause. Außerdem liegt es in einem Viertel, das inzwischen als gefährlich eingestuft werden muss und wo mein Beruf mir tägliche Anwürfe einbringt. Ich wer de es also verkaufen und in eine der azraelistischen Gemein schaften in Belgien umziehen.
All das mag sehr plötzlich wirken, und ich will auch gar nicht behaupten, dass meine Entscheidung gründlich durchdacht wäre, mit lange abgewogenem Für und Wider. Aber ich wür de mich freuen, wenn ich
Ihnen begreifich machen konnte, dass ich so, wie mein Le ben zurzeit aussieht, ohnehin nicht mehr viel zu verlieren habe.
Am Ende dieses langen Briefes bleibt mir nur noch, Ihnen für Ihre Geduld und menschliche Haltung zu danken und Ihnen und Ihrer Familie für Ihr Leben das Allerbeste zu wünschen. Ihr ergebener Rudi.
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Niedergeschmettert legte ich den Brief aus der Hand. So würden sie also jetzt das Geld aus dem Verkauf seines Hauses einsacken. Ein Leben lang sparen und Kredite abstottern, und dann das. Andererseits konnten sie ja auch ehrlich sein. Das ist ja das Schlimme mit Sekten: Bis der Skandal losgeht, weiß man nichts Genaues.
Ich erzählte Pam und Barbara, was in dem Brief stand. Ge meinsam beschlossen wir, heute keinen Ausfug zu machen. Ich gab den Wagen beim Verleih zurück, dann verbrachte ich den Tag mit ihnen am Pool. Pam war mit dem Buch von Marie Desplechin fertig; gefallen hatte es ihr nicht besonders. Ich riet ihr zu Emmanuel Carreres L‘adversaire; natürlich hatte ich nur das französische Original dabei, aber schwierige Stellen konnte ich ihr ja erklären. Ich selber fühlte mich unfähig zu le sen; ich nahm einen Liegestuhl und schaute den Wolken nach, die rasch über den Himmel zogen. Mein Kopf fühlte sich fast völlig leer an, und das war sicher das Beste.
Abends lagen wir zu dritt umschlungen in dem großen Bett, aber es geschah nichts Sexuelles. Als hätten wir nur das Be dürfnis, einander zu beschützen, als spürten wir die Nähe von etwas Dunklem, von einer unterirdischen, bösen Kraft, die auf der
Insel am Werk wäre. Andererseits war es ja auch durchaus möglich, dass Azrael ein guter Prophet war, dass seine Ideen wirklich zu einer Verbesserung des Daseins der Menschheit führen würden. Eins jedenfalls war sicher: Was Rudi wider fahren war, hätte jedem von uns passieren können; niemand war mehr vor so etwas gefeit. Keine
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