Lanze und Rose
und kam dann auf der anderen Seite wieder heraus. Behutsam zog sie an dem Faden, bis die Wundränder zusammentrafen, und
verknotete ihn. Erstaunlicherweise zitterten ihre Finger nicht. Sie führte die Nadel geschickt und setzte ihre Stiche, als hätte sie tatsächlich eine einfache Näharbeit vor sich. Nach dem letzten Stich durchtrennte sie erleichtert den Faden. Einen Moment lang verhielten ihre Finger zärtlich auf Duncans stoppligem Kiefer. Der junge Mann atmete auf, und seine Finger, die ihren Knöchel umklammert hatten, bis er taub wurde, entspannten sich. Während der gesamten Operation hatte er keinen Laut von sich gegeben.
»Ich bin fertig«, verkündete sie ruhig und besah sich zufrieden das Ergebnis. »Hmmm … Nicht übel für meinen ersten Patienten.«
Ein verlegenes Schweigen trat ein.
»Tut es sehr weh?«
Duncan sah sie an. Sein Mund lächelte, doch seine Augen wirkten traurig.
»Ich habe schon Schlimmeres erlebt …«
»Umso besser.«
Er maß sie mit einem merkwürdigen Blick, und plötzlich fühlte sie sich sehr schlecht.
»Das wollte ich nicht sagen. Tut mir leid … Ich wollte nur nicht die Ursache für dein schlimmstes Leiden sein.«
Duncan ergriff eine ihrer roten Haarsträhnen, rollte sie um seinen Zeigefinger und strich darüber. Dann ließ er sie wieder los.
»Mach dir keine Gedanken, Marion. Die Sassanachs haben mir weit Schlimmeres angetan.«
Marions Herz setzte einen Schlag aus.
»Oh! Herrgott!«
Bestürzt sah sie sich um und schaute suchend in die vielen leidenden Gesichter, die sie umgaben. Duncans Bruder war nicht darunter. Vielleicht war er ja nicht verwundet worden? Doch sie glaubte nicht daran.
»Möchtest du darüber sprechen?«
Der Mann, der auf ihrem Rock lag, betrachtete sie einen Moment lang mit einem undeutbaren Blick und schloss dann die geschwollenen Lider. Er wandte sich ab. Seine mit getrocknetem
Blut verkrusteten Haare breiteten sich wie ein starrer Fächer über ihre Knie. Sie unterdrückte einen jähen Drang, mit den Fingern hineinzufahren.
»Mein Bruder Ranald … Er ist auf dem Schlachtfeld gefallen. Diese Hurensöhne haben ihn mit dem Schwert abgeschlachtet.«
»Das Schwert der Sassanachs «, flüsterte sie, entsetzt darüber, dass ihre Vision wahr geworden war. »Das tut mir so schrecklich leid, Duncan …«
Zögernd strich sie über seine Schulter. Unter dem groben, auf Bauernart gewebten Stoff spürte sie, wie seine Muskeln sich zusammenzogen. Zur Antwort drückte er ihren Knöchel, den er immer noch umfasst hielt.
»Marion … Warum bist du hier?«
Einen Moment lang verschlug es ihr die Sprache.
»Ich dachte, man könnte mich gebrauchen.«
Nur eine halbe Lüge, sagte sie sich. Sanft glitten Duncans Finger über ihre Haut und bis zu ihrer Wade hinauf, wo sie verhielten.
»Gut, dass du geblieben bist; besser, als du dir vielleicht vorstellen kannst«, erklärte er und wandte sich ihr zu.
Sie hielt den Atem an. Selbst war sie sich nicht mehr so sicher. Sein zärtlicher, eindringlicher Blick ließ ihr Herz dahinschmelzen. Sie hatte sich in ihn verliebt, das vermochte sie nicht mehr abzustreiten. Aber warum war sie wirklich geblieben? Sie hatte ihren Bruder und Breadalbane in voller Absicht und schamlos angelogen. Sie hatte es gewagt, sich über den Befehl ihres Vaters, nach Hause zurückzukehren, hinwegzusetzen. Um bei diesem Mann zu sein, zugegeben! Und weiter? Aus reinem Mitgefühl? Oh nein! Sie war gekommen, weil ihr Herz es ihr geboten hatte. Es hatte ihre verschlossene Seele erschüttert und ihr vollständig zu Bewusstsein gebracht, was dieser Mann in ihr hervorrief. Dieser Mann… Ein Macdonald.
Marion biss sich auf die Lippen und betrachtete das zerschundene, angeschwollene Gesicht des Mannes, dessen Blick sie versengte und nie gekannte Gefühle in ihr aufsteigen ließ. Wie er wohl empfand? Dass er sie begehrte, war ziemlich klar. Doch
wie würde er mit ihrer Seele umgehen, sobald er ihren Körper einmal in Besitz genommen hatte? Für sie war beides untrennbar. Wenn er ihre Seele verlachte, würde sie entsetzlich darunter leiden.
Duncans Hand gab ihre Wade frei, um über ihre Wange und dann über ihren Hals zu streichen. Sie erschauerte. Verlegen wandte sie den Blick ab, sah auf das zerrissene, blutbefleckte Hemd hinunter und zog das Plaid über dem Verwundeten hoch.
»Ich werde dir ein sauberes Hemd besorgen.«
Liam saß neben seinem Freund Simon, der auf einem blutigen Strohsack, auf dem kurz zuvor noch ein Toter gelegen hatte,
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