Lanze und Rose
abgehackter – oder einfach abgerissener – Gliedmaßen zu verbinden und Kugeln herauszuholen, die in den Körpern steckten. Oder Wunden wie die von Duncan zu nähen, die feindliche Schwerter geschlagen hatten. Was hatte sie sich vorgestellt? So viele Verwundete, überall um sie herum…
»Danke«, sagte Liam einfach. »Ich besorge Euch Nadel und Faden.«
»Und auch Branntwein, und wenn es keinen gibt, heißes Wasser.«
Liam nickte, entfernte sich einige Schritte und blieb dann stehen.
»Ah! Ich habe vergessen, Euch von seiner anderen Verletzung zu erzählen.«
»Ach ja, noch eine Wunde?«
Langsam hob sie das Plaid hoch, mit dem der Verwundete zugedeckt war. Erst jetzt bemerkte sie, dass Duncan in die Farben von Glenlyon gehüllt war. Sie verzog den Mund zu einem leisen, ironischen Lächeln, das jedoch sofort verschwand und einer erschrockenen Miene wich. Sie hatte das blutrote Hemd entdeckt, das an Duncans Körper klebte. Ihr Herz zog sich zusammen. Alles in allem schien es ihm viel schlechter zu gehen, als sie gedacht hatte.
»Ich bin mir nicht sicher, ob Ihr bereit sein werdet, Euch auch darum zu kümmern. Nicht, dass die Wunde besonders abstoßend wäre, aber …«
»Wenn ich sein Gesicht zusammenflicke, kann ich auch den Rest versorgen. Ihr müsst mir nur zeigen, wo sich seine Verletzung befindet.«
Liam zuckte die Achseln, beugte sich über seinen Sohn und fasste den Saum seines Hemdes.
»Ein Schwerthieb in die Leiste.«
Er betrachtete sie ernst und wartete auf eine Reaktion.
»Ihr meint, oben in den Schenkel?«
»Nicht ganz …«
Verwirrt sah sie auf das Hemd hinunter. Der blutgetränkte Stoff war zerrissen, oder besser gesagt auf der Höhe der Leiste zerschnitten, und klebte auf der Wölbung seines Schritts. Marion war zuvor schon bleich gewesen, doch nun wich ihr alles Blut aus dem Gesicht.
»Ich verstehe …«
Mit einem Mal floss das Blut zurück, und ihre Wangen glühten. Sie sank zusammen und stieß einen leisen Seufzer hervor. Liam ließ das Hemd los und zog das Plaid wieder über Duncan.
»Ist schon gut. Ich werde jemand anderen dafür suchen. Kümmert Ihr Euch um sein Gesicht, dann ist es genug.«
»Danke.«
Einige Minuten später tauchte ein seltsames, dunkles Männlein auf und stellte eine alte, abgeschabte Ledertasche neben Marion ab. Wortlos öffnete es die Tasche und zog ein Stück zusammengerollten Stoff, der mit einem Faden verschnürt war, hervor. In einer Mischung aus Verblüffung und Neugierde sah die junge Frau zu, wie der kleine Mann sich zu schaffen machte. Er rollte den Stoff auf dem Boden aus und legte sich eine große Zahl verschiedener Nadeln und Ahlen in unterschiedlicher Dicke sowie Garnspulen zurecht. Noch einmal fuhr seine kleine, behaarte Hand in die Tasche und zog eine silberne Flasche hervor. Nachdem er den Korken mit den Zähnen gezogen und einen Schluck getrunken hatte, reichte der Mann Marion die Flasche.
»Seid Ihr die Stickerin?«
Marion zuckte zusammen, als sie die unerwartet hell klingende Stimme des Mannes vernahm. Aus dem Gesicht, das wie zersprungener Gips wirkte, blitzten ihr kleine, runde schwarze Augen entgegen.
»Die Stickerin?«
Der winzige Mann besaß die Stimme eines Kindes. Jedenfalls … kam er ihr wie ein Mann vor. Sie nahm die Flasche.
»Ich bin der Flickschuster«, erklärte er und enthüllte eine Reihe fauler und schief sitzender Zähne. »Phineas Bethune von Moidart. Und Ihr müsst die kleine Stickerin sein, von der mir Macdonald erzählt hat …«
»Ja, das bin ich.«
Ein freundliches Lächeln erhellte das eigentümliche Gesicht. Mit der linken Hand, die nur drei Finger hatte, strich der kleine Mann über sein schütteres Ziegenbärtchen. Die Rechte, die vollkommen normal geformt war, trommelte auf seinem Knie herum.
»Dann werdet Ihr ihm ein paar hübsche Schmuckstiche auf die Wange setzen… Das wird Euch beschäftigen, während ich den Rest erledige.«
Mit einer knappen Bewegung schob er das Plaid weg. Dann nahm er die Lampe und hob das Hemd, während Marion peinlich berührt den Blick abwandte.
»Autsch, autsch!«
Das runde Gesicht des Zwerges verzog sich zu tausend Fältchen, aus denen in der Mitte unproportioniert die Nase herausragte. Ein urisk , ging es der jungen Frau jetzt auf. Sie war noch nie einem dieser kleinen Leute begegnet, die, wie man sich erzählte, über die Heide wanderten, immer auf der Suche nach einem Ort, wo sie im Austausch für kleine Arbeiten Zuflucht und Kost finden konnten. Wie es hieß,
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