Lanze und Rose
war der urisk an seiner kleinen Statur, seinen langen, struppigen Haaren und oft auch an Missbildungen an Händen und Füßen zu erkennen. Und das Männchen besaß all diese Eigenschaften. Er murmelte etwas.
»Wie meint Ihr?«, fragte sie, sich mühsam aus ihren Überlegungen losreißend.
»Ich sagte, dass der junge Mann großes Glück gehabt hat. Einen Zoll weiter nach rechts, und schnipp! Vorbei!«
Marion verzog das Gesicht und nahm einen Schluck Branntwein, der eine Feuerspur durch ihre Kehle zog. Tränen traten ihr in die Augen, und sie hustete. Phineas warf ihr einen amüsierten Blick zu.
»Euer Gatte?«
»Ähem … nein«, antwortete sie.
Er sah sie einen Moment lang zweifelnd an und zuckte dann die schmalen Schultern, die in einem fadenscheinigen, dunklen Rock aus grober, gewebter Wolle beinahe versanken.
»Schön, dann frisch ans Werk!«
Er wählte eine lange, feine Nadel aus und nahm eine Spule Seidengarn, von dem er ein Stück abwickelte und abbiss.
»Haltet die Lampe, während ich die Nadel vorbereite«, befahl er, vollständig auf seine Aufgabe konzentriert.
»Sicherlich.«
Er hielt die Nadel vor das flackernde Licht der Lampe, verzog das Gesicht zu einer komischen Grimasse, bei der er ein Auge zukniff und die Zunge herausstreckte, und peilte das Öhr an. Mit einer einzigen Bewegung hatte er den Faden eingefädelt. Er wiederholte den Vorgang mit einer zweiten Nadel, die er Marion reichte. Mit zitternden Fingern nahm sie das Instrument entgegen und warf einen Blick auf Duncan, der friedlich zu schlafen
schien. Das würde sie niemals fertigbringen, dachte sie beklommen.
Phineas hatte sich bereits ohne viel Federlesens an die Arbeit gemacht. Der Verwundete stöhnte leise.
»Neiiin!«, brüllte Duncan dann mit einem Mal und riss verstört die Augen auf.
»Gebt ihm einen ordentlichen Schluck Branntwein«, schlug der kleine Mann vor.
Marion gehorchte sofort. Duncan verschluckte sich und stöhnte.
»Wenn es nötig ist, könnt ihr ihm meine ganze Flasche in den Hals kippen. Ihr habt meine Erlaubnis, kleine Stickerin«, erklärte Phineas.
Noch einmal fuhr er mit der feinen Nadel in die Haut des Verletzten und entlockte ihm einen weiteren Schrei.
»Verfluchter Bastard! Was macht er da bloß?«
Duncan wehrte sich heftig und versuchte aufzustehen. Marion drückte ihn fest auf das Stroh zurück und flößte ihm einen weiteren Schluck Schnaps ein.
»Er flickt dich wieder zusammen, Schwachkopf! Und jetzt hör auf zu zappeln wie ein Fisch auf dem Trockenen, ja?«
Wie vom Donner gerührt und schwer atmend starrte der junge Mann sie an. Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
»Marion?«
Sie lächelte töricht. Dann bemerkte sie, dass sie immer noch die eingefädelte Nadel in den zitternden Fingern hielt, und steckte sie an ihr Mieder. Duncan biss die Zähne zusammen, um einen weiteren Schrei zu unterdrücken. Seine Finger krallten sich in Marions Rock, während der Schuster seine Stiche setzte.
»Was … machst du hier?«
Was sollte sie ihm antworten? Sollte sie ihm gestehen, dass sie seinetwegen geblieben war? Nein, niemals! Nachdem sie sich in der Herberge in Killin so unmöglich aufgeführt hatte, würde er glauben, sie mache sich über ihn lustig. Außerdem durfte sie nicht riskieren, ihm Gefühle zu enthüllen, deren sie sich selbst nicht sicher war. Ehe sie sich weiter vorwagte, wollte sie sich vergewissern, dass sie erwidert wurden.
»Ich … helfe Mr. Phineas bei der Arbeit. Ich soll dein Gesicht nähen.«
»Du?«, gab Duncan ironisch zurück. »Kannst du etwa nähen?«
»Selbstverständlich«, erwiderte sie gekränkt.
»Und du wirst mein Gesicht zusammenflicken?«
Erneut stieß er einen Aufschrei aus und zerrte an ihrem Rock, den er schon völlig zerknittert hatte. Marion setzte die Flasche an seine Lippen und schüttete ihm noch ein wenig von der Flüssigkeit in den Mund.
»Vielleicht täte ich besser daran, dich betrunken zu machen, Duncan Macdonald. Dann könnte ich in Ruhe arbeiten. Oder ich bitte Mr. Phineas, dir die Lippen zuzunähen …«
Der kleine dunkle Mann kicherte und stach noch einmal mit der Nadel zu. Duncan brummte und schloss die Augen.
»Das war’s!«, verkündete Phineas mit triumphierender Stimme. »Fertig!«
Er nahm Marion die Flasche aus den Händen und goss eine großzügig bemessenen Menge Alkohol auf die frische Wundnaht. Duncan bäumte sich auf und erstickte einen weiteren Schrei in den Röcken der jungen Frau.
»In ein paar Tagen könnt Ihr die
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