Lanze und Rose
ich putzte mir die Nase.
»Noch weilt er auf dieser Welt, Caitlin. Gott hat ihn noch nicht zu sich gerufen. Vertraut auf Euren Glauben.«
Mein Glaube … Den hatte ich wohl irgendwo auf dem verschlungenen Pfad, den mein Leben seit Ranalds Tod genommen hatte, verloren. Ich lachte höhnisch auf und schnäuzte mich laut.
»Glauben? Aber woran? An wen? An Liam? An Gott? Sie haben mich beide verlassen. Liam kämpft nicht mehr um sein Leben, sondern wartet nur noch auf die Erlösung. Und was Gott angeht, Er hört mich schon lange nicht mehr an. Statt mein Leiden zu lindern, legt Er mir nur unaufhörlich neue Lasten auf. Was habe ich getan? Was habe ich nur getan, um all das zu verdienen?«
Ich hatte das Gefühl, von Finsternis umgeben zu sein; allein in einem kalten, düsteren Abgrund zu versinken.
»Glaubt mir, es hat keinen Sinn, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, warum Gott uns all dies Leid auferlegt.«
»Was wisst Ihr schon darüber?«, gab ich bissig zurück.
Er seufzte, und in diesem Ton lag ein solcher Schmerz, dass er niemanden gleichgültig gelassen hätte. Auch er musste großes Leid erlebt haben. Doch mein eigener Schmerz hinderte mich daran, ihn danach zu fragen.
»Warum sagt Ihr, dass Euer Gatte nur noch auf den Tod wartet? Ihr liebt ihn; und er liebt Euch, das sieht man daran, wie er Euch anschaut. Blicke lügen nicht.«
»Seit unser Sohn in Sheriffmuir gefallen ist, haben wir uns schrecklich weit voneinander entfernt. Manchmal glaube ich, dass die Liebe nicht genug ist.«
»Ein klein wenig Liebe genügt schon. Den Rest macht der Glaube aus. Wenn man sich Gott zuwendet…«
»Aber Gott hat uns verlassen! Er hat uns bestraft!«
»Ah, die Frage der Theodizee… Wie kann der allmächtige, gütige Gott die Existenz des Bösen in der Welt zulassen? Wir alle kennen dieses unablässige Schwanken zwischen Zweifel und Vertrauen, Auflehnung und Ergebung, Glaube und Unglaube. Das Problem ist, dass wir stets bestrebt sind, nach einem Grund für unser unverdientes Leid zu suchen. Habt Ihr die Bibel gelesen, Caitlin?«
»Teile davon, sicherlich… Ich bin katholisch.«
»Auf Eure Religion kommt es nicht an. Die Bibel ist für alle gleich. Nur die Menschen beharren stur darauf, sie auf unterschiedliche Weise auszulegen… Kennt Ihr das Buch Hiob?«
Ich blieb stumm, doch er nahm keinen Anstoß daran und fuhr fort.
»Als Hiob erlebte, wie sich unter ihm ein Abgrund von Leid auftat, das er für unverdient hielt, versuchte er, den Grund dafür zu finden. Aber da er ein ehrlicher, gerechter und guter Mann war, fand er keinen. Da rebellierte er gegen diesen Gott, an den er stets blind geglaubt hatte, und forderte Gerechtigkeit. Was hatte er getan, dass ihm so viel Unrecht zustieß? Doch es ist sinnlos, die Wege und Pläne zu ergründen, die Gott für die Menschheit hat. Hiob hat das verstanden. Die Menschen sind unfähig, das Rätsel des Leidens und des Bösen zu lösen. Das Böse ist… die Abwesenheit des Guten. Ohne das Böse gäbe es das Gute nicht. Gott gestattet die Existenz des Bösen; ›ne vult, nec non vult, sed permittit!‹ 43 Warum? Vielleicht, weil selbst im Unglück die Macht des Schöpfers das Beste in uns hervorbringt. Wir dürfen
kein Urteil über Gott sprechen, sondern müssen Ihm absolutes Vertrauen schenken. Uns einfach mit unserem Leid und Kummer, unserem Schmerz, unserem Zorn und unserem Zweifel zu Ihm hinwenden. Unser Herz öffnen und das hinnehmen, was ist.«
»Und was hätte ich in diesem Moment davon, wenn ich glauben würde?«, entgegnete ich spöttisch. »Wird der Glaube mir meinen Sohn zurückgeben? Meinen Mann retten?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein. Euer Sohn ist fort. Doch für Euren Gatten gibt es noch ein wenig Hoffnung. Und daran müsst Ihr Euch klammern. Der Glaube … ist wie eine helfende Hand, die uns hilft, das Meer der Schmerzen zu überqueren, die Prüfungen zu bestehen, die uns mutlos machen. Er macht das Leiden einfach nur erträglicher, denn der Schmerz gehört nun einmal zum Leben. Hat nicht jeder Mensch sein Kreuz zu tragen?«
»Das meines Mannes war zu schwer. Er ist daran zerbrochen.«
»Helft ihm, Caitlin. Tragt es einige Schritte mit ihm.«
Mutlos sah ich ihn an und wandte dann den Blick ab.
»Ihm helfen … Wenn man Euch hört, dann klingt das so einfach. Dazu ist es wahrscheinlich zu spät. Wie kommt Ihr überhaupt dazu, solche Reden zu führen? Schließlich seid nicht Ihr es, der leidet.«
Er verzog den Mund.
»Wisst Ihr, auch ich habe mein
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