Lanze und Rose
Teil an Leid erlebt. Ich hatte einst eine Frau, die ich liebte, und vier Kinder, die mein ganzes Glück waren.«
Sprachlos starrte ich ihn durch meinen Tränenschleier an.
»Wir lebten in einer kleinen Stadt in der Nähe von Den Haag, in Holland. Sie sind tot. Ein Unfall, ein törichter Unfall«, murmelte er, in seine schmerzlichen Erinnerungen versunken. »Eine vergessene Kohlenpfanne in der Näheeines Fensters. Wahrscheinlich haben die Vorhänge Feuer gefangen. Der Brand hat alles vernichtet. Ich war nach Amsterdam gereist, um mir Bücher über Anatomie und Medizin zu besorgen. Als ich zurückkehrte, war nichts mehr da. Von meinem Leben waren nur rauchende Asche
und Erinnerungen übrig. Sie waren alle in den Flammen umgekommen. Ich habe mir Vorwürfe gemacht, weil ich fortgefahren war, ich grollte Gott, weil Er mir den Sinn meines Lebens genommen hatte, ich hasste die ganze Welt und die Menschen, die ohne mich fortfuhren zu lachen und sich zu amüsieren. Man hatte mir das Herz aus dem Leibe gerissen, und ich wollte, dass die ganze Welt mit mir litt. Ich vermochte mein Schicksal nicht anzunehmen. Lange irrte ich umher. Ich gab meine Konsultation auf und stürzte mich in die Lektüre, wühlte mich in die Schriften, watete in Ideen, immer auf der Suche nach einem Halt, an den ich mich klammern konnte, um nicht unterzugehen. Ich suchte nach einem Grund für das, was mir geschehen war. In dieser grausamen Welt, die Gott geschaffen hatte, wollte ich nicht länger leben. Also las ich. Sokrates, Plato, die Bibel, den Koran, den Talmud … Auch die Gedanken von Descartes und Erasmus machte ich mir zu eigen. Und aus all diesen Werken über Metaphysik, Philosophie, Theodizee, Theologie und was dergleichen mehr ist, habe ich ein paar kleine Antworten gezogen. Ich habe mir sozusagen ein eigenes Buch über die Welt geschrieben. Sogar Euer höchst brillanter Shakespeare hat mich beeinflusst. Er war ein unruhiger Geist, der sich ebenfalls auf der Suche nach Antworten befand.«
»Ich kenne den Macbeth , Romeo und Julia und König Lear.«
»Ah, Macbeth ! Ein Drama, so nebelumflossen wie Schottland, mit Blut befleckt und erfüllt von dem Angstgeheul des Königs, den seine Schuld zerfrisst. Ja, ich erinnere mich ganz besonders an eine Szene. Hmmm… Ich glaube, es ist die dritte des fünften Aktes: Darin spricht Macbeth mit dem Arzt über den Zustand seiner Gattin. Ich habe daraus eine Lektion gezogen. Die Königin ist aufgewühlt und kann den schrecklichen Mord an König Duncan nicht vergessen. Macbeth bittet den Arzt, ihr ein Mittel zu geben, das ihren kranken Geist heilt, den Kummer daraus austreibt und ihn reinigt, um sie von ihren Schuldgefühlen zu befreien. Doch der Arzt antwortet ihm, dass der Kranke sich in einem solchen Fall selbst heilen muss. Da begriff ich, dass ich die Medizin für mein Leiden nur in mir selbst finden würde, in meinen eigenen Kräften und Überzeugungen, in meinem Herzen.
Nichts auf dieser Welt konnte mich retten, nur ich selbst. Und erst da habe ich mich mit Gott versöhnt. In den Schriften des Apostels Johannes steht folgender Satz: ›Ich bin die Tür. Wenn jemand durch mich hineingeht, wird er Heil erfahren; er wird hineingehen und herausgehen und Weide finden.‹ Gott zeigt uns den Weg zum Heil. Doch es obliegt uns, ihn zu finden und zu beschreiten, indem wir glauben.«
Lange verharrten wir schweigend unter dem mit einer unendlichen Zahl glitzernder Sterne geschmückten Himmelszelt. Einmal, als ich noch klein war, hatte Tante Nellie mir erzählt, jeder Stern sei die Seele einer Kreatur Gottes. Wenn das wirklich stimmte, dann leuchtete irgendwo über mir Ranalds Seele.
»Caitlin, es gibt immer ein Licht in der Dunkelheit, das uns leitet. Wir müssen es nur finden. Gott hat Euch nicht verlassen; Ihr habt Ihn verlassen. Findet Ihn wieder, dann werdet Ihr auch zu Euch selbst zurückfinden. Sagt Euch, dass alles aus einem bestimmten Grund geschieht, den aber Gott allein kennt. Vertraut auf Ihn.«
Ich zog meinen Umhang enger um die Schultern und schloss die Augen. Also gab es einen Grund für alles … für Ranalds Tod, für Liams Verrat, seine Krankheit … All das hatte einen Sinn. Aber welchen? Das wusste nur Gott. Ich musste Ihm vertrauen… Wahrscheinlich bedeutete das, sein Schicksal anzunehmen.
Über eine Stunde später öffnete sich die Tür der Kate, und Beatrix steckte das blasse Gesicht heraus. Sie bedachte mich mit einem starren Blick und taumelte dann plötzlich. Mir blieb fast das
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